Mit Melatonin gegen den Jetlag

Melatonin kann vielleicht die Beschwerden durch Zeitverschiebungen beim Reisen etwas lindern. Es sind aber noch viele Fragen offen.

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Hilft Melatonin gegen Jetlag?

Die besten verfügbaren Studien deuten an, dass Melatonin wirksam gegen Jetlag-Probleme sein kann. Allerdings ist diese Einschätzung nicht gut abgesichert.

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© HAKINMHAN - Shutterstock.com Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Zum Beispiel vom Jetlag.
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Weihnachten unter Palmen, berufliche Meetings auf einem anderen Kontinent – wer sich vor der Corona-Pandemie für solche Fernreisen begeistern konnte (oder musste), kennt Langstreckenflüge und vermutlich auch den leidigen Jetlag: Wenn sich mitten in der Nacht der Hunger auf ein Mittagessen meldet oder sich trotz strahlendem Sonnenschein am Vormittag bleierne Müdigkeit breit macht, hat sich der Körper noch nicht ausreichend an die neue Zeitzone gewöhnt.

Hormon gegen den Jetlag?

Gibt es Abhilfe gegen die reisetypischen Umstellungsprobleme? Im Internet und in Apotheken werden jedenfalls Mittel mit dem „Schlafhormon“ Melatonin angeboten, die gegen den Jetlag helfen sollen. Theoretisch klingt das aufs erste plausibel, weil Melatonin eine wichtige Rolle im Schlaf-Wach-Rhythmus spielt [4].

Aber wie sieht es mit der Praxis aus? Um diese Frage zu beantworten, haben wir uns auf die Suche nach entsprechenden Studien gemacht.

Vielleicht wirksam gegen Jetlag

Bei unserer Recherche haben wir eine Übersichtsarbeit mit zehn Einzelstudien [1] sowie eine neuere Einzelstudie [2] finden können. Dabei haben die Testpersonen nach dem Zufallsprinzip Melatonin oder ein Scheinmedikament erhalten.

Insgesamt zeichnet sich in den Studien ab, dass Melatonin möglicherweise besser gegen Jetlag hilft als ein Scheinmedikament. Der Nutzen dürfte je nach Personen sehr unterschiedlich ausfallen [1].

Allerdings ist unsere vorsichtig positive Beurteilung nicht sehr gut abgesichert. Denn die Studien haben sich nur schwer vergleichen und zusammenfassen lassen. Außerdem fehlen in allen Studien [1,2] wichtige Details, so dass wir die Verlässlichkeit der Ergebnisse nicht sicher abschätzen können.

Was wir nicht wissen

Insgesamt sind noch viele Fragen offen:

  • Was ist die optimale Dosis von Melatonin?
  • Wann sollte Melatonin am besten eingenommen werden: Nur nach dem Langstreckenflug? Oder auch schon davor?
  • Gibt es Unterschiede im Nutzen, abhängig davon, ob es Richtung Osten oder Westen geht?

Nebenwirkungen? Kaum untersucht!

Verlässliche Aussagen zu Nebenwirkungen von Melatonin lassen sich auf Basis der Studien nicht treffen. Denn das wurde nur unzureichend oder gar nicht untersucht [1,2].

Wenn das Zeitgefühl durcheinander kommt

Wann wir schlafen und wann wir wach sind, wird durch die „innere Uhr“ mitbestimmt. Eine wichtige Rolle bei der inneren Uhr spielt Melatonin, das in der Zirbeldrüse des Gehirns produziert wird. Das Hormon macht uns schläfrig. Aber auch äußere Faktoren beeinflussen die innere Uhr, etwa Licht und Dunkelheit.

Ein Jetlag kann dann entstehen, wenn durch Reisen in andere Zeitzonen die innere Uhr sozusagen durcheinander kommt – also wenn es an Abflug- und Ankunftsort zu unterschiedlichen Zeiten hell bzw. dunkel ist. Typische Jetlag-Symptome für einige Tage sind Schlafstörungen, Müdigkeit am Tag und verringerte Leistungsfähigkeit.

Der Jetlag fällt oft umso stärker aus, je mehr Zeitzonen überquert werden. Reisen in Richtung Osten gelten hinsichtlich des Jetlags dabei als anstrengender als die in Richtung Westen [4].

Melatonin als Schlafhilfe

EU-weit sind mehrere Melatonin-Präparate für spezielle Patientengruppen mit Schlafstörungen zugelassen. Diese Medikamente sind in Deutschland und Österreich verschreibungspflichtig. In Großbritannien gibt es auch verschreibungspflichtige Melatonin-haltige Arzneimittel für die Behandlung von Jetlag.

Daneben sind zahlreiche Melatonin-Produkte als Nahrungsergänzungsmittel oder Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Handel. Sie dürfen ganz offiziell damit beworben werden, dass Melatonin dazu beiträgt, „die subjektiven Beschwerden bei Jetlag zu lindern“ [5].

Jedoch ist in Deutschland der Vertrieb von Melatonin in Form solcher Produkte immer wieder Anlass für Streitigkeiten. Die Aufsichtsbehörden sind der Auffassung, dass Melatonin wie ein Arzneimittel wirkt und Melatonin-Präparate deshalb auch als solche zugelassen werden müssten – im Rahmen eines aufwändigen Verfahrens [6-8].

Für Anbieter wären damit jedoch wesentlich höhere Hürden verbunden. Sie haben wohl ein Interesse daran, dass Nahrungsergänzungsmittel und Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke mit Melatonin rechtlich auch weiterhin als Lebensmittel gelten. Denn bei diesen sind die Anforderungen deutlich niedriger als bei Arzneimitteln.

Die Studien im Detail

Zum Anti-Jetlag-Nutzen von Melatonin haben wir uns auf Studien konzentriert, in denen die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip entweder Melatonin oder ein Scheinmedikament eingenommen haben. Zehn solcher Studien sind in einer systematischen Übersichtsarbeit [1] aus dem Jahr 2002 enthalten. Wir haben zusätzlich noch eine neuere Einzelstudie [2], erschienen 2004, finden können.

Diese Studien waren alle eher klein, insgesamt kamen sie aber auf mehr als 1000 Teilnehmende. Die Flugreisenden waren teils Personen aus der Allgemeinbevölkerung, teils Flugpersonal oder Militärangehörige. Die Aussagekraft der Einzelstudien war für uns oft nicht abschließend zu beurteilen, da wichtige Details fehlten.

Große Unterschiede

Die veröffentlichten Studien sind insgesamt sehr unterschiedlich: Sie untersuchten verschiedene Melatonin-Dosierungen; diese lagen zwischen 0,5 Milligramm und 8 Milligramm pro Tag. In einigen Studien nahmen die Testpersonen das Melatonin bereits vor dem Abflug ein und setzten die Einnahme dann nach der Ankunft fort. In anderen Untersuchungen wurde Melatonin nur nach der Ankunft eingenommen.

Sehr divers ist auch die Art und Weise, wie der Nutzen von Melatonin bewertet wurde: In einigen Studien kamen Messgeräte zum Einsatz, um Schlafmuster aufzuzeichnen, in allen Studien mussten die Teilnehmenden auch subjektive Einschätzungen abgeben. Die dabei verwendeten Fragenbögen waren allerdings sehr unterschiedlich, so dass sich die Ergebnisse nur schlecht vergleichen lassen.

Schwierige Zusammenfassung

In der systematischen Übersichtsarbeit [1] konnten immerhin vier Studien mit insgesamt rund 140 Teilnehmenden rechnerisch zusammengefasst werden: Demnach haben Menschen mit Melatonin weniger Jetlag-Beschwerden als Menschen, die ein Placebo eingenommen haben. Auf einer 100-Punkte-Skala liegt der Unterschied bei rund 20 Punkten. Der Unterschied ist groß genug, um spürbar zu sein.

Da die Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2002 stammt und damit schon verhältnismäßig alt ist, erfüllt sie nicht alle Standards, die heute gelten und strenger sind. Insbesondere haben die Autoren nicht geprüft, ob weitere Studien möglicherweise durchgeführt, aber nicht veröffentlicht wurden. Wir haben das ansatzweise nachrecherchiert und nur eine kleine unveröffentlichte Studie identifiziert, deren Ergebnis unsere Gesamteinschätzung aber nicht empfindlich verändern dürfte.

In der Einzelstudie [2] mit nur 27 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde nicht erfasst, wie schlimm der Jetlag insgesamt war. Vielmehr standen einzelne Aspekte wie Schlafprobleme im Fokus der Forschungsteams. Dabei zeichnete sich allerdings kein klares Bild ab, ob und wie viel Melatonin tatsächlich nützt.

In dieser Studie waren die Rahmenbedingungen sehr stark standardisiert: Die Teilnehmenden waren Armee-Angehörige, denen ein strenger Tagesplan hinsichtlich Aufstehen, Schlafengehen, Bewegung, Nahrungsaufnahme, Alkohol- und Koffein-Konsum auferlegt ist. Möglicherweise hatte das einen deutlichen Einfluss auf das Studienergebnis, so dass sich die Studie nicht ohne weiteres auf andere Personengruppen und/oder Verhaltensweisen übertragen lässt. Auch hier fehlen einige Details, um die Aussagekraft der Studie abschließend zu beurteilen.

Was offen bleibt

Die bislang besten verfügbaren Studien [1,2] erlauben insgesamt auch keine zuverlässigen Aussagen dazu, ob der Jetlag möglicherweise unterschiedlich ausfällt – je nachdem, ob die Reisen nach Osten oder nach Westen gehen. Wir können auch nicht ableiten, welche Rolle es beispielsweise spielt, ob Melatonin erst am Ankunftsort oder bereits vor der Abreise eingenommen wird.

Ältere Reisende sind in den Studien nur wenig vertreten. Aussagekräftige Daten zu Kindern fehlen ganz [1].

[1] Herxheimer (2002)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit
Eingeschlossene Studien: 10 Studien mit insgesamt 984 Teilnehmenden
Fragestellung: Verbessert die Einnahme von Melatonin die Symptome von Jet-lag?
Interessenkonflikte: Nach Angaben der Autoren keine finanziellen Interessenkonflikte. Eine der Autoren der Übersichtsarbeit ist Hauptautor von zwei eingeschlossenen Studien.

Herxheimer A u.a. Melatonin for the prevention and treatment of jet lag. Cochrane Database Syst Rev 2002:CD001520
(Zusammenfassung)

[2] Beaumont (2004)
Studientyp: randomisierte kontrollierte Studie
Teilnehmer: 27 Armee-Angehörige in den USA
Fragestellung: Verbessert die Einnahme von Melatonin auf einem Langstreckenflug den Schlaf und senkt es die Tagesmüdigkeit?
Interessenkonflikte: Die Studie wurde von einem Forschungszentrum unterstützt, das zu einem Hersteller eines Melatonin-Produkts gehört

Beaumont M u.a. Caffeine or melatonin effects on sleep and sleepiness after rapid eastward transmeridian travel. J Appl Physiol (1985) 2004; 96:50-8.
(Zusammenfassung)
(Freier Volltext)

Weitere wissenschaftliche Quellen

[3] NCT00097474. Effects of Hydrocortisone, Melatonin, and Placebo on Jet Lag. Registriert 2004, Abschluss der Studie 2007. Abgerufen am 08.10.2020 unter https://clinicaltrials.gov/ct2/show/record/NCT00097474

[4] UpToDate (2020) Jet lag. Abgerufen am 06.10.2020 unter https://www.uptodate.com/contents/jet-lag

[5] EFSA (2010) Scientific Opinion on the substantiation of health claims related to melatonin and alleviation of subjective feelings of jet lag (ID 1953), and reduction of sleep onset latency, and improvement of sleep quality (ID 1953) pursuant to Article 13(1) of Regulation (EC) No 1924/2006. EFSA Journal 2010; 8:1467. Abgerufen am 08.10.2020 unter https://efsa.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.2903/j.efsa.2010.1467

[6] Positionspapier des BVL und des BfArM (2016) Charakterisierung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke (bilanzierten Diäten). Abgerufen am 08.10.2020 unter https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/ZulRelThemen/abgrenzung/Positionspapier.pdf

[7] BVL (o.J.) Gerichtsverfahren des BVL zu melatoninhaltigen Erzeugnissen – Abgrenzung Lebensmittel/Arzneimittel. Abgerufen am 08.10.2020 unter https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/04_AntragstellerUnternehmen/13_FAQ/FAQ_Melatonin/FAQ_Melatonin_node.html

[8] Deutsche Apotheker Zeitung Online (2019) Melatonin in Nahrungsergänzungsmitteln. Abgerufen am 08.10.2020 unter https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2019/10/22/melatonin-in-nahrungsergaenzungsmitteln/

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