Keine Belege für Spermidin gegen Demenz

Nahrungsergänzungsmittel mit Spermidin werden mit einer Anti-Demenz-Wirkung beworben. Bisher durchgeführten Studien sprechen aber eher dagegen.

AutorIn:
Review:  Bernd Kerschner 

Können Nahrungsergänzungsmittel mit Spermidin die geistige Leistungsfähigkeit verbessern?

Können Nahrungsergänzungsmittel mit Spermidin Demenz lindern?

Bisherige – auch von Herstellern durchgeführte – Studien sprechen eher gegen eine Wirkung aufs Gehirn. Die geistige Leitungsfähigkeit scheint Spermidin eher nicht zu beeinflussen. Ob Spermidin vor Demenz schützt oder sie gar behandeln kann, wurde nur in einer unzuverlässigen Studie untersucht.

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© Anna Lurye – Shutterstock Nahrungsergänzungsmittel gegen Demenz? Klingt verlockend.
© Anna Lurye – Shutterstock

Den Stoff Spermidin stellt der menschlichen Körper einerseits selbst her, er kommt aber auch in Nahrungsmitteln vor. Bei Fruchtfliegen und Mäusen kann Spermidin Körperzellen dazu bringen, Ablagerungen im Zellinneren zu beseitigen und sich so selbst zu reinigen – das haben Studien im Labor ergeben [Quelle [4].
Ablagerungen in den Nervenzellen des Gehirns spielen eine Rolle in der Entstehung von Alzheimer-Demenz. Man könnte also schlussfolgern, dass Spermidin das Gedächtnis verbessern und vor Demenz schützen kann. Aber funktioniert das so einfach?
Ja, behaupten Anbieter von Spermidin-Präparaten und werben mit einer Schutzwirkung fürs Gehirn. Aber können sie diesen Effekt auch wissenschaftlich beweisen? Worauf basieren ihre Versprechungen?

Spermidin fürs Gehirn?

Wir haben uns auf die Suche nach Studien gemacht, die Spermidin-Nahrungsergänzungsmittel und ihren Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit untersucht haben. Gefunden haben wir drei [Quellen 1-3].
In allen nahmen ältere Menschen teil, die entweder das Gefühl hatten, ihre geistige Leistungsfähigkeit würde sich verschlechtern, oder eine Demenz-Diagnose hatten. Sie nahmen je nach Studie drei Monate oder ein Jahr lang Spermidin zu sich. Daneben gab es auch jeweils eine Vergleichsgruppe, die wenig bis gar kein Spermidin konsumierte. Am Ende überprüften die Forschungsteams die geistige Fitness der Teilnehmenden mit verschiedenen Tests.

Spermidin konnte nicht überzeugen

In zwei der drei Studien berichtete das Forschungsteam zwar von besseren Leistungen der Spermidin-Gruppe in einzelnen Gedächtnistests [Quellen 1,2]. An einer nahmen auch Personen mit Demenz teil [Quelle 1]. Die Studien liefen nur drei Monate und hatten grobe Mängel. Insgesamt schnitten die Spermidin-Gruppen nicht besser ab als die Vergleichsgruppen.

Auf die Dosis kommt es an – oder?

In der dritten Studie gab es ebenfalls keinen Unterschied zwischen den Gruppen [Quelle 3]. Diese Studie halten wir für besonders interessant. Sie lief ein Jahr lang und damit viermal so lang wie die anderen beiden. Sie war im Gegensatz zu den anderen auch einwandfrei durchgeführt und deshalb aussagekräftiger als die anderen. Das Besondere daran: In Auftrag gegeben wurde sie von SpermidineLIFE, einem großen Anbieter von Spermidin-Nahrungsergänzungsmittel in Österreich.

Dass Spermidin in der Studie keine Wirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit der Teilnehmenden hatte, argumentiert das Forschungsteam mit der verwendeten Dosis. Die lag mit 0,9 Milligramm pro Tag nämlich deutlich unter der von der Herstellerfirma empfohlenen Tagesdosis von 2 Milligramm. Die Dosis wäre also viel zu gering, so die Studienautoren, und eine höhere Dosis hätte vermutlich sehr wohl Wirkung gezeigt. Wir fragten uns deshalb: Warum wurde nicht gleich die empfohlene Dosis untersucht?

Verzehrsempfehlung nachträglich angepasst

Unsere Recherche lieferte die Antwort: Bis die Ergebnisse der Studie vorlagen, hatte die Firma ein Milligramm Spermidin pro Tag empfohlen – also in etwa die in der Studie verwendete Menge [Quelle 8]. Das entsprach einer Kapsel des Nahrungsergänzungsmittels. Nach Bekanntwerden der eher enttäuschenden Studienergebnissen hob die Firma ihre Empfehlung prompt an. Von nun an empfahl sie zwei Kapseln pro Tag. Ob zwei Milligramm wirken, ist aber ebenso fraglich.

In den anderen beiden Studien wurden übrigens 3,3 beziehungsweise 1,2 Milligramm Spermidin untersucht – ohne merkbaren Effekt [Quellen 1,2].

Demenz wurde gar nicht untersucht

Das Problem bei allen drei Studien: Den oft behaupteten Schutz vor Demenz haben sie gar nicht untersucht. An nur einer Studie [Quelle 1] nahmen teilweise Menschen mit der Diagnose Demenz teil. Alle anderen bemerkten an sich lediglich ein schlechtes Gedächtnis oder nachlassende Konzentration. Ob Spermidin also vor Demenz schützen oder gar eine wirksame Behandlung sein könnte, wurde nie erforscht.

Jungbrunnen Spermidin?

Der Körper stellt den eiweißähnlichen Stoff Spermidin selbst her und er findet sich in allen Zellen des Körpers. Wir nehmen ihn aber auch mit verschiedenen Nahrungsmitteln zu uns. Seine genaue Funktion im Körper ist noch nicht vollständig erforscht. Seinen Namen hat Spermidin übrigens daher, dass es erstmals in Sperma entdeckt wurde – denn auch dort kommt es in großer Menge vor.

Körpereigenes Spermidin spielt eine Rolle beim Erneuern und Abbauen alter Zellbestandteile (Autophagie). Fachleute vermuten, dass diese Funktion auch den natürlichen Alterungsprozess beeinflusst. Nahrungsergänzungsmittel mit Spermidin werden deshalb auch als eine Art „Jungbrunnen“ beworben und sollen zu einem längeren und gesünderen Leben verhelfen. Voreilig, wie wir finden.

Ein langes Leben für Fruchtfliegen

In Laborexperimenten lebten Fruchtfliegen und Mäuse tatsächlich länger, wenn sie Spermidin-reiches Futter zu fressen bekamen [Quelle 4]. Doch das muss nicht zwangsläufig auch für Menschen gelten. Zudem bekamen die Tiere das Spermidin ihr ganzes Leben lang. Ob es Menschen einen Vorteil bringt, irgendwann im Leben mit der Spermidin-Einnahme zu beginnen, bleibt fraglich. Ob zusätzlich über die Nahrung aufgenommenes Spermidin überhaupt im Körper ankommt, ist ebenfalls unklar [Quelle 7].

Zu Spermidin als Anti-Aging-Mittel haben wir in einem anderen Beitrag recherchiert.

Demenz: Geistig und körperlich Aktive besser geschützt

Mit steigendem Alter nimmt das Risiko für Demenz stetig zu. Im Alter von über 85 Jahren sind geschätzt 6 bis 8 von 100 Menschen von Demenz betroffen [5]. Wie genau es zu der Erkrankung kommt, ist noch nicht vollständig geklärt. Ein Mangel an bestimmten Botenstoffen im Gehirn und Ablagerungen zwischen den Nervenzellen dürften eine Rolle spielen. Diabetes, hohes Cholesterin, Bluthochdruck, Depression, Schwerhörigkeit und Einsamkeit erhöhen wahrscheinlich das Demenz-Risiko. Menschen, die sich geistig und körperlich betätigen und sozial aktiv sind, dürften dagegen weniger häufig an Demenz erkranken [6].

Mehr zum Thema Demenz

Ausführliche und wissenschaftlich fundierte Informationen zur Demenz gibt es bei Gesundheitsinformation.de und Gesundheit.gv.at.

Wir haben uns bereits einige Nahrungsmittel und Behandlungen genauer angesehen, die bei Demenz helfen oder davor schützen sollen:

Transkranielle Pulsstimulation
Kurkuma
Orangensaft
Kaffee

Die Studien im Detail

Nach welchen Studien haben wir gesucht?

Eine aussagekräftige Studie sähe so aus: Eine Gruppe von Menschen mit abnehmender geistiger Leistungsfähigkeit oder Demenz wird per Los auf zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine bekommt anschließend eine Zeitlang ein Spermidin-Präparat, die andere ein gleich aussehendes Schein-Präparat, ein Placebo. Die Teilnehmenden wissen nicht, in welcher Gruppe sie sich befinden und das Forschungsteam weiß es ebenso wenig. Das nennt man auch Verblindung. Die soll sicherstellen, dass die Erwartungen der teilnehmenden oder Forschenden das Ergebnis nicht beeinflussen. Zu Beginn und am Ende der Studie werden beispielsweise Gedächtnis und Konzentration der Versuchspersonen gemessen. Zeigt sich ein Unterschied zwischen den Gruppen?

Wir haben in drei verschiedenen Datenbanken nach solchen Studien gesucht und drei gefunden [Quellen 1-3].

Wie aussagekräftig sind die Studien?

Nur eine der drei Studien halten wir für aussagekräftig [Quelle 3]. Zum einen, weil die 100 Teilnehmenden ein Jahr lang Spermidin beziehungsweise ein Placebo erhielten. Das ist für eine solche Studie, die aufwändig und teuer ist, schon ganz beachtlich. Bezahlt und durchgeführt wurde sie von der größten Spermidin-Herstellerfirma in Österreich. Das würde uns für gewöhnlich misstrauisch machen – wäre da nicht das für die Firma unvorteilhafte Ergebnis: Das Spermidin-Präparat zeigte keinen Effekt auf die geistige Leistungsfähigkeit der Teilnehmenden.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch die beiden anderen Studien – auch wenn die jeweiligen Autorenteams einen anderen Eindruck vermitteln, und einzelne positive Resultate besonders hervorheben wollen [Quellen 1,2]. Insgesamt hatte das Spermidin in den beiden drei Monate laufenden Studien keinen merklichen Effekt. Von beiden Studien sind wir jedoch wenig überzeugt:

  • Sie waren mit drei Monaten zu kurz, um sinnvolle Ergebnisse zu liefern.
  • In einer der Studien war unklar, wie viel Spermidin die Teilnehmenden eigentlich konsumierten [Quelle 1]. Außerdem wurden zwei unterschiedliche Spermidin-Mengen miteinander verglichen, die die Teilnehmenden in Form von Spermidin-reichen Frühstücksbrötchen zu sich nahmen. Warum die Studie so durchgeführt wurde, ist für uns nicht nachvollziehbar. Weit einfacher wäre es gewesen, ein Nahrungsergänzungsmittel mit einer bestimmten Menge an Spermidin zu verwenden, beziehungsweise ein Placebo-Mittel.
  • In derselben Studie macht uns auch das Fehlen von Zahlen Ergebnisse werden als Graphik dargestellt, manche fehlen ganz. Das macht es für uns schwierig, die Ergebnisse nachzuvollziehen. Es legt außerdem die Vermutung nahe, dass unvorteilhafte Ergebnisse nicht berichtet wurden.
  • In beiden Studien ist unklar, ob die beiden Gruppen dieselben Startbedingungen hatten und ob der Vergleich damit fair war. Diese Informationen fehlen.
  • Nur an einer der beiden Studien nahmen Menschen mit unterschiedlich schwerer Demenz teil [Quelle 1]. Ob Spermidin-Nahrungsergänzungsmittel bei Demenz helfen, lässt sich nicht sicher beantworten. Dazu ist die Studie zu mangelhaft.

 

[1] Pekar u.a. (2021). The positive effect of spermidine in older adults suffering from dementia. Wiener klinische Wochenschrift, 133(9), 484-491. (Link zur Studie)

[2] Wirth u.a. (2018). The effect of spermidine on memory performance in older adults at risk for dementia: A randomized controlled trial. Cortex, 109, 181-188. (Link zur Studie)

[3] Schwarz, C., et al. (2022). Effects of Spermidine Supplementation on Cognition and Biomarkers in Older Adults With Subjective Cognitive Decline: A Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open 5(5): e2213875. (Link zur Studie)

[4] Madeo, F., et al. (2018). Spermidine in health and disease. Science (New York, N.Y.), 359(6374), eaan2788. (Link zur wissenschaftlichen Arbeit)

[5] UpToDate (2018) Epidemiology, pathology, and pathogenesis of Alzheimer disease. UpToDate 2018. Abgerufen am 28.2.2022 unter www.uptodate.com (Kostenpflichtig)

[6] IQWiG (2021) Abgerufen am 5.4.2022 unter www.gesundheitsinformation.de

11.3.2024: Bei eine Update-Suche fanden wir eine neue gute gemachte Studie. Sie änderte unsere bisherige Einschätzung.

11.4.2022: Erste Veröffentlichung des Faktenchecks. Die Studienlage ist zu dünn für eine klare Antwort.

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