Startseite ● Leaky Gut Syndrom: Mythos löchriger Darm Dieser Beitrag ist älter als vier Jahre, möglicherweise hat sich die Studienlage inzwischen geändert. Leaky Gut Syndrom: Mythos löchriger Darm Einschlägige Internetseiten liefern eine einfache Erklärung für viele chronische Erkrankungen: eine löchrige Darmwand. Wissenschaftliche Belege dazu fehlen. 05. Dezember 2017 AutorIn: Bernd Kerschner Review: Claudia Christof Teilen Verursacht das Leaky Gut Syndrom gesundheitliche Beschwerden oder Erkrankungen? wissenschaftliche Belege fehlen Es gibt keine klare Definition, was das Leaky Gut Syndrom sein soll. Tatsächlich ist die Darmschleimhaut bei manchen Erkrankungen durchlässiger als gewöhnlich. Es ist aber unklar, ob das eine Ursache oder die Folge der jeweiligen Erkrankung ist. so arbeiten wir Nur ein Mythos: eine poröse Darmwand soll die Ursache für zahlreiche Krankheiten sein. © benschonewille – Fotolia.com Angenommen, Wissenschaftler würden auf einen Schlag die Ursache für zahlreiche chronische Erkrankungen entdecken. Angenommen, dadurch ließen sich auf einfache Weise so unterschiedliche Krankheiten wie Diabetes, Allergien, Rheuma, Multiple Sklerose oder Autismus heilen – oder zumindest vorbeugen. Die Sensation wäre perfekt, der Nobelpreis und die ewige Dankbarkeit unzähliger Betroffener wären den Entdeckern sicher. Genau diese Forschungssensation sei schon längst passiert, behaupten zahlreiche Autoren von Gesundheitsbüchern und Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln im Internet. Die angebliche Ursache der genannten Krankheiten heißt demnach Leaky Gut Syndrom. Leaky Gut Syndrom – was ist das? Verfechter der Idee vom Leaky Gut Syndrom behaupten, eine undichte Dünndarm-Schleimhaut sei schuld an vielen chronischen Krankheiten. Durch Löcher in der Darmwand sollen Giftstoffe, Pilze, Krankheitserreger und unvollständig verdaute Partikel in den Körper gelangen und dort allerlei Unheil stiften. Die Sache hat allerdings einen grundlegenden Haken. Denn wie genau ein Arzt oder eine Ärztin ein solches Leaky Gut Syndrom verlässlich feststellen können soll, ist nirgends klar beschrieben. In der wissenschaftlichen Medizin ist der Begriff Leaky Gut Syndrom unbekannt, selbst in medizinischen Fachliteraturdatenbanken finden sich so gut wie keine Publikationen dazu. Was das Leaky Gut Syndrom genau ist, kann also niemand beschreiben, Erklärungen dazu bleiben stets vage. Hypothetische Löcher mit wahrem Kern? Auf den ersten Blick scheint die Idee des Leaky Gut Syndroms durchaus auf wissenschaftlichen Tatsachen zu beruhen. Denn das Phänomen einer erhöhten Durchlässigkeit der Darmschleimhaut existiert tatsächlich. Einerseits hat die Darmwand die Aufgabe, Schadstoffe und Krankheitserreger vor dem Eindringen in den Körper zu bewahren. Auf der anderen Seite müssen jedoch Nährstoffe aus der verdauten Nahrung durchgelangen – denn diese sollen ja gerade vom Körper aufgenommen werden. Damit das gut klappt, besitzt die Schleimhaut des Dünndarms eigens dafür gedachte Transportkanäle, sie ist also von Natur aus nicht völlig dicht. In welchem Ausmaß diese Kanäle durchlässig sind, steuern unter anderem körpereigene Botenstoffe, viel dabei ist aber noch unerforscht [1]. Was war zuerst? Bei einigen Erkrankungen haben Wissenschaftler tatsächlich beobachtet, dass die Darmschleimhaut durchlässiger ist als gewöhnlich. Das ist beispielsweise bei entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, einer Unverträglichkeit des Weizeneiweiß Gluten (Zöliakie), Nahrungsmittelallergien oder Reizdarm der Fall [2]. Zudem ist bekannt, dass entzündungshemmende Schmerzmittel wie Ibuprofen oder ASS (Wirkstoff Acetyl-Salicyl-Säure, etwa Aspirin oder Aspro) [3] sowie chronischer Alkoholmissbrauch [4] die Verbindungen zwischen den Zellen in der Dünndarmwand schwächen und die Darmschleimhaut dadurch durchlässiger machen können. An dieser Stelle kommt das große Aber: Nur weil eine durchlässigere Darmschleimhaut bei verschiedenen Krankheiten auftritt, bedeutet das keineswegs, dass diese erhöhte Durchlässigkeit die Ursache dafür ist. Es ist durchaus denkbar, dass sie stattdessen die Folge von Erkrankungen ist. Ein klassisches Henne-Ei-Problem: wir wissen nicht, was zuerst da war [5]. Kein Hinweis auf Krankheitsursache Was die Ursachen für die angeführten Darmkrankheiten betrifft, tappt die Wissenschaft noch weitgehend im Dunkeln. Wie das Reizdarm-Syndrom oder chronische Darmentzündungen wie Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa entstehen, ist völlig unbekannt [6,7]. Auch die Entstehung von Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Zöliakie [8] und Lebensmittel-Allergien [9] ist noch kaum erforscht. Das hindert Befürworter wie die Webseite Zentrum-der-Gesundheit.de nicht, diese und andere Krankheiten als dramatische Folgen des angeblichen Leaky Gut Syndroms anzuprangern. Genau wie für Darmerkrankungen und Nahrungsmittelallergien gibt es aber keine Hinweise, dass eine erhöhte Durchlässigkeit der Darmschleimhaut bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle spielen könnte: etwa bei Diabetes [10,11], anderen Allergien [12,13], Autismus [14], Autoimmunerkrankungen wie Rheuma [15], Multiple Sklerose [16], Lupus erythematosus [17] oder dem Chronischen Müdigkeitssyndrom [18]. Dementsprechend ist auch die Behandlung der nicht wissenschaftlich gesicherten „Diagnose“ Leaky Gut Syndrom fragwürdig. Befürworter schlagen eine breite Palette an Maßnahmen wie Einläufe, diverse Nahrungsergänzungsmittel oder die Einnahme von Probiotika vor, die angeblich alle der „Darmsanierung“ dienen. Ob diese Maßnahmen das vermeintliche Leaky Gut Syndrom beheben können, lässt sich jedoch nicht überprüfen, da ja nicht klar ist, wie sich dieses Syndrom überhaupt feststellen lässt. [Aktualisiert am 5. 12. 2017. Eine Suche nach neuen Studien ändert unsere Einschätzung nicht.] Die Studien im Detail Es gibt keine Studien zum Leaky Gut Syndrom. Wissenschaftliche Quellen [1] Odenwald & Turner (2013) Odenwald MA, Turner JR. Intestinal permeability defects: is it time to treat? Clin Gastroenterol Hepatol. 2013 Sep;11(9):1075-83. (Nicht-systematische Übersichtsarbeit in voller Länge) [2] Bischoff u.a. (2014) Bischoff SC, Barbara G, Buurman W, et al. Intestinal permeability – a new target for disease prevention and therapy. BMC Gastroenterology. 2014;14:189. doi:10.1186/s12876-014-0189-7. (Nicht-systematische Übersichtsarbeit in voller Länge) [3] UpToDate (2017) Wong Kee Song L-M (2017) NSAIDs: Adverse effects on the distal small bowel and colon. In Grover S (ed.) UpToDate. Abgerufen am 5. 12 2017 unter www.uptodate.com/contents/nsaids-adverse-effects-on-the-distal-small-bowel-and-colon [4] Parlesak u.a. (2000) Parlesak A, Schäfer C, Schütz T, Bode JC, Bode C. Increased intestinal permeability to macromolecules and endotoxemia in patients with chronic alcohol abuse in different stages of alcohol-induced liver disease. J Hepatol. 2000 May;32(5):742-7. (Zusammenfassung) [5] Michielan u.a. (2015) Michielan A, D’Incà R. Intestinal Permeability in Inflammatory Bowel Disease: Pathogenesis, Clinical Evaluation, and Therapy of Leaky Gut. Mediators Inflamm. 2015;2015:628157. (nicht-systematische Übersichtsarbeit in voller Länge) [6] UpToDate (2017) Peppercorn MA, Cheifetz AS (2017). Definition, epidemiology, and risk factors in inflammatory bowel disease. In Grover S (ed.) UpToDate. Abgerufen am 5. 12 2017 unter www.uptodate.com/contents/definition-epidemiology-and-risk-factors-in-inflammatory-bowel-disease [7] IQWIG (2016) Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen – IQWIG (2016). Reizdarmsyndrom. Abgerufen am 5. 12 2017 unter www.gesundheitsinformation.de/reizdarmsyndrom.2269.de.html [8] UptoDate (2017) Hill ID (2017) Epidemiology, pathogenesis, and clinical manifestations of celiac disease in children. In Hoppin AG (ed.) UpToDate. Abgerufen am 5. 12 2017 unter www.uptodate.com/contents/epidemiology-pathogenesis-and-clinical-manifestations-of-celiac-disease-in-children [9] UpToDate (2017) Eigenmann AD (2017) Pathogenesis of food allergy. In TePas E (ed.). UpToDate. Abgerufen am 5. 12 2017 unter www.uptodate.com/contents/pathogenesis-of-food-allergy [10] UpToDate (2017) McCulloch DK, Robertson RP (2017). Pathogenesis of type 2 diabetes mellitus. In Mulder JE (ed.). UpToDate. 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