Startseite ● Reizdarm: Helfen Probiotika? Reizdarm: Helfen Probiotika? Das Reizdarm-Syndrom ist für die Betroffenen unangenehm. Können Probiotika helfen? Möglicherweise ja – aber einen großen Effekt darf man sich nicht versprechen. 02. August 2021 AutorIn: Iris Hinneburg und Jana Meixner Review: Julia Harlfinger Teilen Lindern Probiotika die Beschwerden bei Reizdarm-Syndrom? möglicherweise ein bisschen Drei Zusammenfassungen der besten verfügbaren Studien fanden übereinstimmend einen kleinen Effekt. Dabei ist aber unklar, ob der rechnerisch „sichtbare“ Effekt für Menschen mit Reizdarm-Syndrom auch tatsächlich spürbar ist. Es gibt auch Hinweise darauf, dass nicht alle Studien veröffentlicht worden sind. so arbeiten wir Helfen Probiotika gegen Durchfall, Verstopfung und andere Beschwerden bei der Diagnose Reizdarm? © 9dream studio – Shutterstock.com Bauchschmerzen, Völlegefühl, Blähungen, Durchfall oder Verstopfung. Verdauungsbeschwerden können unzählige Ursachen haben, von Unverträglichkeiten bis psychischem Stress. Oft sind sie nur vorübergehend. Reizdarm: viele sind betroffen Wenn die Beschwerden aber einfach nicht verschwinden wollen, die Lebensqualität schlechter wird und sich keine andere Ursache findet, lautet die Diagnose dann mitunter „Reizdarm-Syndrom “ – auch wenn dies kein klar abgrenztes Krankheitsbild mit gut bekannter Ursache ist. Schätzungsweise 10 bis 20 von 100 Menschen bekommen diese Diagnose, Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer [4]. Vielfältiges Angebot an Probiotika Zu den Mitteln, die bei Reizdarm häufig beworben werden, gehören Probiotika. Das sind lebende Mikroorganismen, meist bestimmte Bakterien, selten auch Hefen. Sie sind entweder Milchprodukten wie Joghurt zugesetzt oder werden als Nahrungsergänzungsmittel in Kapselform verkauft. Angeboten werden sie je nach Produkt im Supermarkt, in der Drogerie, in Apotheken oder im Internet. Ein Leser wollte von uns wissen, was man zum Nutzen von Probiotika beim Reizdarm-Syndrom weiß. Das Leben im Darm Ganz abwegig ist die Idee zum Einsatz von Probiotika nicht. Eine von mehreren Theorien zur Entstehung des Reizdarm-Syndroms besagt: Die Beschwerden kommen auf, wenn das so genannte Mikrobiom im Darm gestört ist [7], auch bekannt als Darmflora. Das sind viele verschiedene Mikroorganismen, die eine wichtige Rolle im Körper spielen, etwa bei der Verdauung und für das Immunsystem. Und die in Probiotika enthaltenen Mikroorganismen sollen das beim Reizdarm-Syndrom gestörte Gleichgewicht wieder herstellen [5]. So plausibel die Theorie für manche Fachleute auch sein mag – ob Probiotika tatsächlich helfen, kann sich erst in Studien praktisch erweisen. Deshalb wollten wir verlässliche Untersuchungen finden, bei denen Menschen mit dem Reizdarm-Syndrom zwecks Vergleich entweder Probiotika oder ein Scheinmedikament eingenommen haben. Viele Studien, aber… Verblüffenderweise haben wir sehr viele Studien gefunden. Sie sind in drei Übersichtsarbeiten [1,2,3] zusammengefasst. Demnach könnten Probiotika insgesamt betrachtet bei Reizdarm möglicherweise helfen. Wirklich gut abgesichert ist diese Erkenntnis dennoch nicht. Und falls Probiotika die Beschwerden wirklich lindern, dann ist keine große Wirkung zu erwarten. Die Studien deuten auch darauf hin, dass nicht alle Menschen mit Reizdarm auf Probiotika ansprechen. „Wundermittel“ sind Probiotika also vermutlich nicht. Was wir nicht wissen Die Datenlage lässt einige Fragen offen: So fehlten in den Studien häufig Angaben , um die Qualität der Untersuchungen gegenzuprüfen. Deshalb lassen sich zur Zuverlässigkeit der Studien keine abschließenden Aussagen machen. Auch wurden in den Studien diverse Mittel in verschiedenen Zusammensetzungen und Dosierungen untersucht. In einigen der Untersuchungen zeigten sich positive Effekte, in manchen nicht. Welche Art von Probiotika am besten wirken und wie hoch die ideale Dosierung ist, ließ sich trotz tausender Patientinnen und Patienten nicht ableiten. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass möglicherweise nicht alle Studien zu Probiotika bei Reizdarm veröffentlicht wurden. Studien mit negativem Ergebnis könnten eher in der sprichwörtlichen Schublade verschwunden sein. Deshalb sind wir unsicher, ob der zusammengefasste Effekt aus den veröffentlichten Studien tatsächlich der Realität entspricht. Die längste Studie, die in den Übersichtsarbeiten berücksichtigt wurde, dauerte sechs Monate. Deshalb können wir zum längerfristigen Nutzen der Probiotika keine Aussage treffen. Gerade beim Reizdarm-Syndrom, bei dem die Beschwerden typischerweise über einen längeren Zeitraum bestehen, wäre diese Information aber wichtig. Vermutlich verträglich In zwei Übersichtsarbeiten traten bei den Teilnehmenden mit Probiotika und Placebo etwa gleich häufig unerwünschte Wirkungen auf [1,2]. Die dritte, aktuellste Übersichtsarbeit hingegen berichtet von etwas mehr Nebenwirkungen durch Probiotika [3]. Welche Art von Nebenwirkungen auftraten und ob diese leicht oder schwer waren bleibt jedoch offen. Daher ist diese Einschätzung mit Unsicherheit behaftet . Verschiedene Typen Beim Reizdarm-Syndrom können unterschiedliche Beschwerden besonders im Vordergrund stehen. Demzufolge wird das Reizdarm-Syndrom in verschiedene Subtypen eingeteilt: Reizdarm vorwiegend mit Verstopfung – Reizdarm vorwiegend mit Durchfall – Reizdarm mit Verstopfung und Durchfall im Wechsel. Allerdings ist eine solche eindeutige Klassifikation nicht immer möglich [6]. Theorien zur Ursache Außer Störungen des Mikrobioms („Darmflora“) werden noch weitere Ursachen für das Reizdarm-Syndrom diskutiert. Dazu gehören etwa Veränderungen in der Beweglichkeit des Magen-Darm-Trakts, eine erhöhte Empfindlichkeit von Nervenzellen in der Darmwand, Entzündungsprozesse, Überempfindlichkeiten gegenüber bestimmten Lebensmitteln, genetische oder psychosoziale Faktoren [5]. Die Studien im Detail Bei unserer Recherche sind wir auf drei aktuelle systematische Übersichtsarbeiten [1,2,3] gestoßen. Sie haben viele Einzelstudien zusammengefasst, in denen Patientinnen und Patienten mit Reizdarm-Syndrom nach dem Zufallsprinzip entweder ein Probiotikum oder ein Scheinmedikament erhalten haben. Die Studien dauerten mindestens zwei Wochen, längstens sechs Monate. Die erste Übersichtsarbeit [2] hat 53 Studien mit rund 5.500 Teilnehmenden eingeschlossen, die zweite [1] 59 Studien mit knapp 6.800 Teilnehmenden. In der dritten, aktuellsten Übersichtsarbeit [3] sind es 35 Studien mit knapp 3.500 Teilnehmenden. Die Unterschiede bei den eingeschlossenen Studien entstanden durch Abweichungen beim Datum der Literaturrecherche und bei der Auswahl der Suchbegriffe. Außerdem hat sich eine Arbeit [1] nur auf Erwachsene beschränkt, während in den anderen beiden [2] auch Studien mit Jugendlichen ab 16 berücksichtigt wurden. Die Übersichtsarbeiten sind sich aber insgesamt in den Auswahlkriterien sowie den Ergebnissen so ähnlich, dass wir sie hier zusammenfassen. Große Unterschiede An den in den Übersichtsarbeiten zusammengefassten Studien nahmen jeweils zwischen 24 und knapp 400 Patientinnen und Patienten teil. Sie alle hatten die Diagnose Reizdarm-Syndrom erhalten, aber teils nach unterschiedlichen Kriterien. In den Studien wurden diverse Probiotika untersucht, entweder mit einer einzelnen Art von Mikroorganismen oder in verschiedenen Kombinationen. Nur wenige Studien untersuchten exakt dasselbe Präparat. Auch die Dosierungen waren extrem unterschiedlich: In der Studie mit der höchsten Dosis war diese 10.000-mal höher als in der Studie mit der niedrigsten Dosis. Diese extreme Bandbreite erschwert den Vergleich der Studien und macht es schwierig, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Auch die Dauer variierte sehr stark, und zwar zwischen zwei Wochen und sechs Monaten. Die Beschwerden bei einem Reizdarm-Syndrom bestehen in der Regel über einen deutlich längeren Zeitraum bzw. sogar ein Leben lang, sodass sich über einen längerfristigen Nutzen aus diesen Studien keine verlässlichen Schlussfolgerungen ziehen lassen. Die Übersichtsarbeiten sind sich darin einig, dass bei den meisten Studien entscheidende Details in den Veröffentlichungen fehlen, wodurch deren Qualität nicht abschließend bewertet werden kann. Das schränkt die Aussagekraft der Ergebnisse ein. Wie groß ist der Effekt? Alle drei Übersichtsarbeiten nutzten zwei verschiedene Auswertungsmethoden, um den Nutzen der Probiotika-Einnahme zu untersuchen: Zum einen fassten sie den Anteil der Teilnehmenden zusammen, bei denen sich die Beschwerden verbessert haben, bei denen die Behandlung also angeschlagen hat. Mit Probiotika kam es bei knapp der Hälfte zu einer Linderung, mit Placebo nur bei einem Drittel. Da die genauen Kriterien für einen Behandlungserfolg in den Studien teilweise aber sehr unterschiedlich waren, lässt sich aus diesen Zahlen die Größenordnung des Effekts nur schlecht abschätzen. Mehr Aufschluss gibt dazu die zweite Auswertungsmethode: Dazu wurden die Studien zusammengefasst, bei denen die Teilnehmenden ihr Gesamtbefinden oder einzelne Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Blähungen auf einer Punkteskala bewerten mussten. Dabei schnitten die Probiotika zwar in der Regel besser ab als das Scheinmedikament, der Effekt war aber sehr klein. Ob Mesnchen mit Reizdarm-Syndrom diesen sehr kleinen Effekt im Alltag tatsächlich bemerken können, lässt sich nicht sicher sagen. Wissenschaftliche Quellen [1] Li (2020) Studientyp: systematische Übersichtsarbeit Eingeschlossene Studien: 59 randomisierte kontrollierte Studien mit insgesamt rund 6.800 Teilnehmenden Fragestellung: Welchen Nutzen haben Probiotika bei Reizdarm-Syndrom? Interessenkonflikte: Keine nach Angaben des Autorenteams Li B et al. Efficacy and Safety of Probiotics in Irritable Bowel Syndrome: A Systematic Review and Meta-Analysis. Front Pharmacol 2020;11:332 (Zusammenfassung) (Freier Volltext) [2] Ford (2018) Studientyp: systematische Übersichtsarbeit Eingeschlossene Studien: 53 randomisierte kontrollierte Studien mit rund 5.500 Teilnehmenden Fragestellung: Welchen Nutzen haben Probiotika bei Reizdarm-Syndrom? Interessenkonflikte: Ein Teil des Autorteams hat Verbindungen zu Pharmafirmen, darunter auch Herstellern von Probiotika. Ford A et al. Systematic Review With Meta-Analysis: The Efficacy of Prebiotics, Probiotics, Synbiotics and Antibiotics in Irritable Bowel Syndrome. Aliment Pharmacol Ther 2018; 48:1044-1060 (Zusammenfassung) (Freier Volltext) [3] Niu & Xiao (2020) Studientyp: systematische Übersichtsarbeit Eingeschlossene Studien: 35 randomisierte kontrollierte Studien mit insgesamt rund 3.452 Teilnehmenden Fragestellung: Welchen Nutzen haben Probiotika bei Reizdarm-Syndrom? Interessenkonflikte: Keine nach Angaben des Autorenteams Niu, H. L., & Xiao, J. Y. (2020). The efficacy and safety of probiotics in patients with irritable bowel syndrome: Evidence based on 35 randomized controlled trials. Int J Surg, 75, 116-127. (Freier Volltext) Weitere wissenschaftliche Quellen [4] IQWiG (2019) Reizdarmsyndrom. (Abruf 10.07.2020) [5] UpToDate (2020) Pathophysiology of irritable bowel syndrome. (Abruf 02.07.2020) [6] UpToDate (2020) Clinical manifestations and diagnosis of irritable bowel syndrome in adults. (Abruf 02.07.2020) [7] UpToDate (2020) Probiotics for gastrointestinal diseases. (Abruf 02.07.2020) Schlagworte BauchschmerzenBlähungenDarmDarmfloraDurchfallJoghurtMikrobiomProbiotikaReizdarmReizdarm-SyndromVerstopfungVöllegefühl In über 500 Faktenchecks suchen