Gerüchte um Nikotin: Schützt Rauchen vor Corona?

Es gibt Gerüchte um einen Anti-Corona-Schutzeffekt für Raucherinnen und Raucher. Es ist jedoch reine Spekulation, dass Nikotin bei Covid-19 schwere Verläufe und Todesfälle verhindern kann.

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Haben Nikotin bzw. Rauchen bei Covid-19 eine schützende Wirkung, d.h. bewahren sie vor einem schweren Verlauf oder dem Tod?

Eine in vielen Medien zitierte Beobachtungsstudie aus einem Pariser Spital ist nicht geeignet, um diese Hypothese zu untermauern. Vielmehr ist es nach heutigem Stand des Wissens plausibel, dass Raucherinnen und Raucher bei Covid-19 ein erhöhtes Risiko haben könnten. Möglicherweise verläuft bei ihnen eine Coronainfektion eher schwer, sodass eine Beatmung notwendig ist oder der Tod eintritt.

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© JGade (www.Shutterstock.com) Ein absurd wirkendes Gerücht zieht weite Kreise.
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Dieser Beitrag ist Teil unserer Faktencheck-Serie Mythen und Fakten zum Coronavirus

Was führt zu über sieben Millionen Todesfällen pro Jahr, Tendenz steigend? Das Rauchen von Zigaretten.

Somit ist das Zigarettenrauchen führend unter den vermeidbaren Todes- und Krankheitsursachen. Es tötet beispielsweise durch Lungenkrebs und die Lungenerkrankung COPD [10].

Rauchen als Risiko

Auch bei einer Coroaninfektion ist das Rauchen ein möglicherweise ungünstiger Faktor, so anerkannte Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO und das Robert Koch-Institut. Es erscheint plausibel, dass Raucherinnen und Raucher eher gefährdet sind: also dass Covid-19 bei ihnen eher einen schweren Verlauf nimmt oder sogar zum Tod führt. Schließlich sind Immunsystem und Lunge vorbelastet [8-14].

Auch zwei Übersichtsarbeiten [5,6] aus China berichten, dass Rauchen ein Risikofaktor für einen ungünstigen Covid-19-Verlauf sein könnte. Dies entspricht dem aktuellen Stand des Wissens, der sich derzeit rasch wandelt [3,4].

Spekulation über Blockade

Als Kontrastprogramm dazu hat im April 2020 eine französische Forschergruppe eine kühn wirkende Behauptung veröffentlicht [1]. Sie präsentieren keine stichhaltigen wissenschaftlichen Belege – stellen aber in den Raum, dass Nikotin aus Tabak eventuell eine Schutzwirkung bei einer Coronainfektion hat. Laut ihrer Hypothese könnte Nikotin vielleicht bestimmte Andockstellen im Körper blockieren und unter Umständen krankmachende Abläufe hemmen.

Dadurch, so das Autorenteam der rein theoretischen Arbeit [1], hätten Coronaviren es bei Raucherinnen und Rauchen schwerer, sich auszubreiten. Nikotin könne demnach möglicherweise vor schweren Verläufen schützen, die etwa eine Beatmung auf der Intensivstation notwendig machen oder sogar zum Tod führen.

Wo sind die Raucherinnen und Raucher?

Als Grundlage für ihre Idee nennt die Forschergruppe [1] eine einzige Beobachtungsstudie [2] aus einem Pariser Spital. Die Qualität dieser Spitalsstudie lässt stark an der Aussagekraft zweifeln.

Für die Studie [2] wurde von 482 Patientinnen und Patientinnen mit Covid-19 eine wissenschaftliche Momentaufnahme gemacht. Dabei wurde auch die Rauchgewohnheiten erfasst: Insgesamt 22 Infizierte gaben an, täglich zu rauchen.

Laut Forschungsteam [2] war der Anteil der Raucherinnen und Raucher mit rund 5 Prozent erstaunlich gering. Schließlich würden in Frankreich etwa 25 Prozent der Allgemeinbevölkerung rauchen, so das Team. Auf das vermeintliche „Fehlen“ von Raucherinnen und Rauchern unter den Coronainfizierten folgert das Forschungsteam: Nikotin kann vielleicht vor einem schweren Covid-19-Verlauf schützen.

Mängel, Lücken, Übertreibung

Leider hat die Publikation [2] einerseits schwere Mängel und deutliche Lücken in der Berichterstattung. Daher können wir keine Schlüsse ziehen und schon gar keine mögliche Schutzwirkung von Nikotin herauslesen.

Zum Beispiel: Patientinnen und Patienten aus Intensivstationen wurden in der Studie nicht berücksichtigt. Vielleicht haben also die am schwersten Betroffenen gefehlt? Ob Raucherinnen und Raucher gehäuft an einer schweren Form von Covid-19 erkranken, lässt sich so nicht beantworten. Über eventuelle Todesfälle wird nicht berichtet.

Zudem lässt sich aus den Daten eines einzigen Spitals nicht auf die Gesamtbevölkerung schließen. Außerdem gibt es Unklarheiten bei der Auswahl der Patientinnen und Patienten und bei der Erhebung des Raucherstatus.

Aus unserer Sicht auch nicht förderlich für das Vertrauen in die Hypothese [1] vom vielleicht schützenden Nikotin: Erstautor Jean-Pierre Changeux hat in der Vergangenheit Zahlungen von der Tabakindustrie erhalten [15-17]. Er ist Neurobiologe und erforscht unter anderem die Wirkung von Nikotin auf das Nervensystem.

Weiters fehlt uns die eine selbstkritische Einordnung durch das Studienteam und ein Abgleich mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Die Schlussfolgerungen erscheinen uns allzu euphorisch. Da ist etwa die Rede von der Hoffnung, dass künftig mit diesen Erkenntnissen vielleicht Leben gerettet werden.

Folgen einer Pressemeldung

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass die internationale Nachrichtenagentur Agence France-Presse die Studie aufgegriffen hat. Dies wiederum hatte eine breite internationale Berichterstattung [zum Beispiel: 18] zur Folge.

Zumindest in Frankreich lösten Medienberichte über die vermeintliche Schutzwirkung Hamsterkäufe von Nikotinersatzprodukten (Pflaster usw.) aus. Der Verkauf wurde eingeschränkt [19].

Bald bessere Informationen

Wir gehen davon aus, dass es schon in Kürze bessere Informationen zu schützenden Faktoren und Risikofaktoren geben wird. Denn das veröffentlichte Wissen über die Coronainfektion wächst täglich.

Selbst wenn sich Hinweise rund um den noch nebulösen Nikotin-Schutzeffekt verdichten sollten – es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine solche Wirkung die vielen eindeutig nachgewiesenen negativen Effekte des Zigarettenrauchens überwiegen kann [3, 4].

Mehr zum Thema Corona

Mehr gesicherte Informationen rund um das Coronavirus bzw. die Infektion Covid-19 finden Sie unter: www.gesundheitsinformation.de

Rauchen in Österreich

In Österreich sterben jährlich Schätzungen zufolge 14.000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Das Land wird von manchen aufgrund des hohen Raucheranteils auch als „Aschenbecher Europas“ bezeichnet.

Selbst Personen, die nur wenig rauchen, haben ein erhöhtes Risiko für viele Krankheiten, zum Beispiel für Osteoporose, Impotenz, Magengeschwüre und Schwangerschaftskomplikationen. Auch Passivrauchen ist Auslöser für Erkrankungen und Todesfälle. Es gibt also kein „Safe Level“ für gefahrloses Rauchen [12, 20, 21].

Mehr zum Thema Rauchen, etwa gesundheitliche Folgen und Rauchstopp, finden Sie unter: www.gesundheitsinformation.de. Einen Überblick über österreichische Beratungs- und Hilfsangebote zur Rauchentwöhnung bietet gesundheit.gv.at.

Suchtstoff Nikotin

Nikotin ist eine natürlich Verbindung, die beispielsweise in der Tabakpflanze Nicotiana tabacum vorkommt. Nikotin macht schnell stark abhängig und ist verantwortlich für das hohe Suchtpotenzial beim Rauchen.

Menschen nehmen Nikotin vor allem über Zigarettenrauch auf. Weitere Nikotinquellen sind Kautabak, E-Zigaretten und verschiedene Ersatzprodukte für den Rauchstopp wie Pflaster, Sprays und Kaugummis.

Nikotin bindet an spezielle Andockstellen namens nikotinische Acetylcholinrezeptoren. Diese kommen zum Beispiel im Nervensystem vor. Durch sie löst Nikotin die bekannten entspannenden bzw. anregenden Effekte aus [7, 11].

Die Studien im Detail

Die Arbeit, die als Ideengeber für die Nikotin-Schutz-Hypothese [1] zitiert wird, ist eine Querschnittstudie [2]. Sie liefert Momentaufnahmen aus dem Pariser Universitätsklinikum „Hôpital Universitaire Pitié Salpêtrière“.

Dafür hat ein Forschungsteam einige Eigenschaften von 482 Covid-19-Patientinnen und -Patienten erfasst: Alter, Geschlecht und Raucherstatus. Diese Personen wurden zwischen Februar und April 2020 im Spital betreut. Sie waren entweder auf einer Normalstation. Oder sie besuchten nur die Ambulanz, um sich dann zuhause auszukurieren. Weil in der Studie Daten von Patientinnen und Patienten aus Intensivstationen fehlen, vermuten wir, dass die eingeschlossenen Personen wohl eher nur leicht bis mittelschwer betroffen waren.

Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter zogen dann einen Vergleich: Waren unter den ambulant und stationär betreuten Menschen ebenso viele Raucherinnen wie in der Allgemeinbevölkerung?

Das Forschungsteam berichtet, dass der Raucheranteil unter den Coronainfizierten außergewöhnlich gering war. Nur 22 von 482 Personen gaben an, täglich zu rauchen, also 4,4% (Ambulanz) bzw. 5,3% (Station). In der Allgemeinbevölkerung hingegen rauchten laut einer telefonisch Befragung im Jahr 2018 über 25%.

Diesen großen Unterschied interpretieren die Forscherinnen und Forscher folgendermaßen: Es könnte sein, dass Nikotin aus dem Zigarettenrauch einen schützenden Effekt haben könnte und vielleicht vor einem schweren Verlauf der Infektion bewahrt.

Wir sind nicht alleine mit unseren starken Zweifeln an dieser Aussage bzw. können die Herleitung nicht nachvollziehen [15, 16]: Diese Studie liefert zwar ein auf den ersten Blick verblüffendes Ergebnis. Sie taugt aber keineswegs, um einen Schutzeffekt von Nikotin und Rauchen nahezulegen. Es ist unklar, wie Unterschied zustande gekommen ist.

Hier einige Kritikpunkte:

  • Die Anzahl der Probandinnen und Probanden war gering, sodass es leicht zu statistischen Zufallsbefunden gekommen sein kann. In der Stichprobe waren nur 22 „bekennende“ Raucherinnen und Raucher.
  • Es ist unsicher, ob die Patientinnen und Patienten wahrheitsgemäße Angaben zu ihren Rauchgewohnheiten gemacht haben. Vielleicht haben sie geflunkert, als sie nach ihrem aktuellen Zigarettenkonsum befragt wurden. Eine Unterschätzung ist durchaus möglich. Ein Hinweis darauf ist der ungewöhnlich hohe Anteil an ehemaligen Raucherinnen und Rauchern.
  • Über die Erhebungsmethode und deren Vertrauenswürdigkeit ist in der Publikation nichts Genaues zu erfahren.
  • Es ist nicht näher erklärt, warum die Daten der am schwersten betroffenen-Covid-19-Patientinnen und -Patienten nicht in die Studie eingeflossen ist: also all jene, die auf der Intensivstation waren. Auch für die eingeschlossenen Infizierten sind die Angaben „Ambulanz“ bzw. „Station“ die einzigen indirekten Hinweise auf den Schweregrad und Verlauf. Zu Todesfällen gibt es keine Information.
  • Es ist unklar, ob die gezogenen Vergleiche zwischen Infizierten und Allgemeinbevölkerung wirklich sinnvoll waren. Es ist wahrscheinlich, dass die Covid-Betroffenen kein repräsentatives Abbild der französischen Allgemeinbevölkerung waren.
  • Im Diskussionsteil ist erwähnt, dass überdurchschnittlich viele Covid-19 Betroffene zum Gesundheitspersonal zählten. Dies kann zu Verzerrungen geführt habe. Diese Berufsgruppe spiegelt nicht die Allgemeinbevölkerung. Gesundheitspersonal raucht im Durchschnitt seltener. Gleichzeitig haben diese Personen jobbedingt ein eher höheres Ansteckungsrisiko.
  • Beide Publikationen wurden auf der Online-Plattform „Qeios“ ohne Peer Review publiziert. Damit ist die Begutachtung und Kritik durch Fachkolleginnen und -kollegen gemeint. Der Peer Review ist zwar kein perfekter, aber ein wichtiger Mechanismus, um in der Wissenschaft die Qualität von Publikationen sicherzustellen.

[1] Changeux u.a. (2020)
Jean-Pierre Changeux, Zahir Amoura, Felix Rey, Makoto Miyara: A nicotinic hypothesis for Covid-19 with preventive and therapeutic implications. Qeios 2020.
(Gesamte Arbeit)

[2] Miyara u.a. (2020)
Miyara M, Tubach F, Martinez V, Panzini-Morelot C, Pernet J, Haroche J, Morawiec E Gorochov G, Caumes E, Hausfater P, Combes A, Similowski T, Amoura Z. Low incidence of daily active smokers in patients with symptomatic COVID19. Qeios 2020.
(Gesamte Arbeit)

Weitere wissenschaftliche Quellen

[3] Simons u.a. (2020)
Simons, D., Shahab, L., Brown, J. & Perski, O. The association of smoking status with SARSCoV-2 infection, hospitalisation and mortality from COVID-19: A living rapid evidence review. Qeios 2020.
(Gesamte Arbeit)

[4] The OPEN SAFELY Collabrative u.a. (2020)
OpenSAFELY: factors associated with COVID-19-related hospital death in the linked electronic health records of 17 million adult NHS patients. medRxiv 2020.05.06.20092999
(Gesamte Arbeit)

[5] Zheng (2020)
Zheng Z, Peng F, Xu B, Zhao J, Liu H, Peng J, Li Q, Jiang C, Zhou Y, Liu S, Ye
C, Zhang P, Xing Y, Guo H, Tang W. Risk factors of critical & mortal COVID-19
cases: A systematic literature review and meta-analysis. J Infect. 2020 Apr 23.
pii: S0163-4453(20)30234-6.
(Zusammenfassung)
(Gesamte Arbeit)

[6] Zhao (2020)
Zhao Q, Meng M, Kumar R, Wu Y, Huang J, Lian N, Deng Y, Lin S. The impact of
COPD and smoking history on the severity of Covid-19: A systemic review and
meta-analysis. J Med Virol. 2020 Apr 15.
(Zusammenfassung)
(Gesamte Arbeit)

[7] Dynamed (2020)
Nicotine
(kostenpflichtig; abgerufen am 7.5.2020)

[8] Dynamed (2020)
COVID-19 (Novel Coronavirus)
(kostenpflichtig; abgerufen am 7.5.2020)

[9] UpToDate (2020)
Coronavirus disease 2019 (COVID-19): Critical care and airway management issues
(kostenpflichtig; abgerufen am 7.5.2020)

[10] UpToDate (2020)
Benefits and consequences of smoking cessation
(kostenpflichtig; abgerufen am 7.5.2020)

[11] UpToDate (2020)
Cardiovascular effects of nicotine
(kostenpflichtig; abgerufen am 7.5.2020)

[12] UpToDate (2020)
Quitting smoking (beyond the basics)
(abgerufen am 7.5.2020)

[13] Robert Koch-Institut (2020)
SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)
(abgerufen am 7.5.2020)

[14] World Health Organization (2020)
Q&A on smoking and COVID-19
(abgerufen am 7.5.2020)

[15] Stopping Tobacco Organizations and Products STOP (2020)
Studies That Suggest Smoking And Nicotine Protect Against COVID-19 Are Flawed
(abgerufen am 7.5.2020)

[16] Vivid, Fachstelle für Suchtprävention (2020)
Nikotin schützt nicht vor Corona
(abgerufen am 7.5.2020)

[17] Le Monde (2012)
Artikel “Comment le lobby du tabac a subventionné des labos français“ vom 31.5.2012
(abgerufen am 7.5.2020)

[18] Guardian (2020)
Artikel „French Study suggests smokers at lower risk of getting coronavirus“
(abgerufen am 7.5.2020)

[19] ORF (2020)
Beitrag „Frankreich begrenzt Verkauf von Nikotinpflastern“
(abgerufen am 7.5.2020)

[20] National Cancer Institute (2016)
No Safe Level of Smoking: Even low-intensity smokers are at increased risk of earlier death
(abgerufen am 7.5.2020)

[21] Celermajer & Nasir-Ahmad (2017)
Cigarette smoking in Austria – a call for action. Wien Klin Wochenschr. 2017 Dec;129(23-24):864-865.
(Gesamter Artikel)

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