Antidepressiva absetzen auch ohne Probleme möglich?

Antidepressiva plötzlich abzusetzen kann belastende Absetzsymptome auslösen. Wie gut schrittweises Absetzen diese verhindern kann, ist aber schlecht erforscht.

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Kann das langsame Absetzen von Antidepressiva verhindern, dass Absetzsymptome auftreten?

Fachleute empfehlen, Antidepressiva am Ende der Behandlung langsam und schrittweise abzusetzen. Das soll belastende Absetzsymptome möglichst geringhalten. Wie gut das funktioniert, ist allerdings nur unzureichend untersucht.

so arbeiten wir
Älterer Mann mit Tabletten, am Bett sitzend. Antidepressiva können beim Absetzen Beschwerden verursachen.
©iStock-Nes

Depressionen sind häufig: 16 bis 20 von 100 Menschen erkranken irgendwann in ihrem Leben daran – Frauen häufiger als Männer, ältere Menschen öfter als jüngere [6]. Viele Betroffene nehmen zur Behandlung Antidepressiva ein – meist über viele Monate, manchmal über Jahre. Haben sich die Beschwerden nach einiger Zeit deutlich gebessert oder sind sie ganz verschwunden, steht irgendwann die Frage im Raum: Kann ich das Medikament jetzt absetzen?

Es ist sinnvoll, wenn Betroffene dies mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin besprechen. Denn wenn man Antidepressiva zu früh absetzt, kann eine Depression wieder zurückkommen. Beim Absetzen können außerdem belastende Probleme auftreten. Zu den bekannten Absetzsymptomen gehören etwa Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Schwindel, Benommenheit, Reizbarkeit oder Unruhe. Manche Betroffene fühlen sich auch durch wiederkehrende Stromschlag-artige Empfindungen im Kopf beeinträchtigt. Sie treten oft wenige Tage nach dem Absetzen auf und können bis zu sechs Wochen anhalten [4,7]. Dass die Symptome die Betroffenen stark belasten können, war lange umstritten, wird heute aber nicht mehr bezweifelt [4].

Wie sich diese Absetzsymptome am besten vermeiden lassen, wird schon seit geraumer Zeit diskutiert. Einig sind sich Fachleute: Am besten ist es, mit dem Einnehmen von Antidepressiva nicht plötzlich aufzuhören, sondern die Dosis nach und nach zu verringern. Das wird auch „Ausschleichen“ genannt [4,7]. Aufgrund ihrer Erfahrung empfehlen sie oft, die Dosis über einen Zeitraum von mindestens 8 bis 12 Wochen schrittweise zu reduzieren [7].

Mehr Forschung notwendig

Diese Empfehlung ist zwar nachvollziehbar. Es ist jedoch unklar, wie gut sie Betroffenen wirklich hilft. Denn unserer Recherche zufolge wurde das nicht ausreichend erforscht.

Bei welcher Absetzgeschwindigkeit die wenigsten Probleme auftauchen, ließe sich am besten in einer Studie untersuchen, die verschiedene Geschwindigkeiten miteinander vergleicht: Eine Gruppe an Teilnehmenden würde das Antidepressivum zum Beispiel über 8 Wochen absetzen, eine andere Gruppe über 12 Wochen. Sinnvoll wäre auch, dass eine dritte Gruppe das Antidepressivum zum Vergleich weiternimmt. So ließe sich herausfinden, welche Probleme tatsächlich durch das Absetzen entstehen.

Studien mit solchen Geschwindigkeitsvergleichen haben wir jedoch nicht gefunden. Wir sind nur auf zwei Untersuchungen gestoßen, die das schrittweise Verringern der Dosis entweder mit plötzlichem Absetzen oder mit Weiternehmen verglichen haben. Darin dauerte das Ausschleichen jedoch weniger lang als von Fachleuten empfohlen: in einer Studie war es lediglich eine Woche [2], in einer anderen acht Wochen [3].

Ob acht Wochen zu weniger Absetzsymptomen führen als nur eine Woche, können die Studien auch nicht beantworten, denn sie sind nicht vergleichbar und kommen zu widersprüchlichen Aussagen. Darüber hinaus haben sieweitere Mängel (siehe Abschnitt Die Studien im Detail). Ihre Aussagekraft ist daher gering. Wie lange das Verringernd der Dosis idealerweise dauern sollte, ist daher unklar.

Was beim Absetzen passiert

Wie Absetzsymptome entstehen, ist noch nicht geklärt. Häufig verwendete Antidepressiva erhöhen die Konzentration des Nerven-Botenstoffs Serotonin im Gehirn. Fachleute vermuten, dass sich die Nervenzellen daran gewöhnt haben und beim Absetzen zu wenig eigenes Serotonin produzieren. Das dürfte jedoch nicht die einzige Erklärung sein. Beispielsweise könnten auch negative Erwartungen eine Rolle spielen [4].

In den ersten Monaten sollen Antidepressiva die Beschwerden lindern und schließlich verschwinden lassen. Danach schließt sich eine sogenannte Erhaltungstherapie an, die mindestens vier bis neun Monate dauert. Sie soll helfen, das Risiko für einen Rückfall zu senken [6]. Ein höheres Risiko für einen Rückfall haben beispielsweise Menschen, die bereits mehrere Episoden einer Depression hinter sich haben, bei denen die erste Episode schon früh im Leben aufgetreten ist und bei denen trotz Behandlung weiter Anzeichen einer Depression bestehen bleiben. In solchen Fällen kann auch eine längere Behandlung über mehrere Jahre sinnvoll sein [6,7].

Hat man das Mittel nur über kurze Zeit eingenommen, ist meistens kein langsames Reduzieren der Dosis nötig. Fachleute gehen davon aus, dass Absetzsymptome erst dann auftreten, wenn Betroffene das Mittel länger als acht Wochen eingenommen haben [7]. Wollen Betroffene das Antidepressivum also absetzen, weil es nicht ausreichend hilft oder sie es schlecht vertragen, können sie das Medikament nach Absprache mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin auch rasch absetzen.

Depression behandeln: nicht nur Antidepressiva

Bei einer Depression gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die wichtigsten sind Psychotherapie und Medikamente. Welche Therapie am besten geeignet ist, hängt von mehreren Dingen ab: etwa wie schwer die Depression ist, wie die persönlichen Lebensumstände sind und wie sich die Erkrankung entwickelt [6].

So gibt es verschiedene Formen von Depression, und die Beschwerden können sich unterscheiden: Bei manchen Betroffenen steht eine tiefe Traurigkeit und Niedergeschlagenheit im Vordergrund. Andere fühlen sich vor allem stark erschöpft und antriebslos. Oft verläuft die Krankheit in Wellen: Bei manchen klingen die Beschwerden nach einigen Wochen oder Monaten ab, sie können aber auch wiederkommen. Bei anderen hält die Depression länger an, ist aber abwechselnd mal stärker und mal weniger stark [6].

Detaillierte Informationen zu Depression und welche Behandlungsmöglichkeiten es bei dieser Erkrankung gibt, beschreibt die unabhängige Webseite Gesundheitsinformation.de.

Wenn man sich niedergeschlagen fühlt oder den Verdacht hat, von einer Depression betroffen zu sein, informiert die Seite Gesundheit.gv.at außerdem darüber, wohin man sich wenden kann.

Wenn man Antidepressiva absetzen möchte, beschreibt die Seite Patienten-Information.de, was Fachleute aus Erfahrung empfehlen – auch wenn es keine aussagekräftige Forschung dazu gibt.

Die Studien im Detail

Nach welchen Studien haben wir gesucht?

Wir wollten wissen, mit welcher Strategie sich Probleme beim Absetzen am besten vermeiden lassen. Am besten ließe sich das in Studien untersuchen, die verschiedene Ausschleich-Geschwindigkeiten und -Strategien miteinander vergleichen. Beispielsweise würde eine Gruppe an Teilnehmenden ihre Antidepressiva schrittweise über 8 Wochen reduzieren, während eine andere Gruppe die Medikamente über 12 Wochen absetzt. Der Vergleich würde aufzeigen, welche der untersuchten Strategien weniger Absetzsymptome verursacht.

Idealerweise würde eine dritte Gruppe die Antidepressiva weiter einnehmen. So ließe sich unterscheiden, welche Probleme durch das Absetzen entstehen, und welche Nebenwirkungen der Antidepressiva sind. Schließlich wäre auch wichtig zu prüfen, ob es dabei einen Unterschied macht, welches Antidepressivum vorher eingenommen wurde oder ob die Teilnehmenden zum ersten oder zum wiederholten Mal das Medikament bekamen.

In solchen Studien sollten die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip (randomisiert) auf die Behandlungsgruppen verteilt werden. Solche randomisierten kontrollierten Studien gelten als aussagekräftigste Methode, um die Auswirkungen von Behandlungen verlässlich abzuschätzen.

Bei unserer Recherche haben wir eine Übersichtsarbeit [1] gefunden, die alle bis Jänner 2020 veröffentlichten randomisiert-kontrollierten Studien zum Absetzen von Antidepressiva zusammenfasst. Davon war eine Studie prinzipiell relevant [2]. Sie hat das schrittweises Reduzieren der Dosis sowohl mit plötzlichem Aufhören der Einnahme als auch mit dem Weiternehmen der Antidepressiva verglichen. Das Ausschleichen dauerte allerdings nur eine Woche – in dieser Zeit nahmen die Teilnehmenden die halbe Dosis. Danach setzten sie die Antidepressiva ganz ab. Beschwerden haben die Forschenden nach einer weiteren Woche abgefragt.

Zusätzlich haben wir in Forschungsdatenbanken nach aktuelleren Studien gesucht und eine weitere gefunden [3]. Hier dauerte das Reduzieren der Dosis deutlich länger: In den ersten vier Wochen bekamen die Teilnehmenden die halbe Dosis, für weitere vier Wochen ein Viertel. Danach setzten die Teilnehmenden die Antidepressiva ganz ab. Symptome, die möglicherweise mit dem Absetzen des Medikaments zusammenhängen, haben die Forschenden insgesamt über ein Jahr abgefragt.

In den beiden Studien hatten die Teilnehmenden vor unterschiedliche Antidepressiva über unterschiedlich lange Zeiträume eingenommen: In der kürzeren [2] war es das Antidepressivum Desvenlafaxin, mit dem die Teilnehmenden sechs Monate lang behandelt wurden. In der länger dauernden Studie [3] hatten die Teilnehmenden Citalopram, Sertralin, Fluoxetin oder Mirtazapin mindestens ein Jahr lang eingenommen, ein gutes Drittel sogar mehr als fünf Jahre.

Wie aussagekräftig sind diese Studien?

Eindeutige Schlüsse lassen sich aus diesen beiden Untersuchungen allerdings nicht ziehen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:

  • Die Studien haben nicht verschiedene Absetz-Geschwindigkeiten miteinander verglichen. Das macht es schwierig zu beurteilen, welche Strategie ideal wäre.
  • In beiden Studien passierte das Verringern der Dosis schneller, als es üblicherweise heute empfohlen wird [3,6]. Es bleibt daher unklar, ob Absetzsymptome bei noch langsamerem Absetzen besser vermieden werden.
  • Die beiden Untersuchungen kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen: In der einen [2] gab es beim Ausschleichen über eine Woche nicht mehr Beschwerden als bei weiterer Einnahme der Antidepressiva. In der anderen [3] traten beim Ausschleichen über zwei Monate mehr Beschwerden auf als beim Weiter-Einnehmen des Antidepressivums. Ob das an den unterschiedlichen Antidepressiva lag, die die Teilnehmenden eingenommen hatten, an den verschiedenen Schweregraden der Depression oder an einem anderen Grund, lässt sich nicht sagen.
  • In einer der Studien [2] war unklar, ob die Zuteilung der Teilnehmenden auf die Gruppen wirklich zufällig erfolgte und ob diese wussten, zu welcher Gruppe sie gehörten. Das könnte die Einschätzung möglicherweise verzerrt haben.
  • In beiden Studien wurde nur die Anzahl der Absetzsymptome gezählt, aber nicht abgefragt, wie stark die Absetzsymptome die Betroffenen belastet haben. Dadurch lässt sich nur schwer abschätzen, wie schwerwiegend die Beschwerden tatsächlich sind.

[1] Van Leeuwen et al. (2021) Approaches for discontinuation versus continuation of long‐term antidepressant use for depressive and anxiety disorders in adults. Cochrane Database Syst Rev 2021, CD013495 (Übersichtsarbeit in voller Länge)

[2] Khan et al. (2014) Abrupt discontinuation compared with a 1-week taper regimen in depressed outpatients treated for 24 weeks with desvenlafaxine 50 mg/d. Journal of Clinical Psychopharmacology, 34(3), 365-368. (Zusammenfassung der Studie)

[3] Antler et al. (2021) Lewis G et al. Maintenance or Discontinuation of Antidepressants in Primary Care. NEJM 2021, 385:1257–1267 (Zusammenfassung der Studie)

Duffy L et al. Antidepressant medication to prevent depression relapse in primary care: the ANTLER RCT. Health Technol Assess 2021;25(69) (Studie in voller Länge)

[4] UpToDate (2023) Discontinuing antidepressant medications in adults. Abgerufen am 23.10.2023 unter uptodate.com (Zugriff kostenpflichtig)

[5] UpToDate (2023) Unipolar depression in adults: Continuation and maintenance treatment. Abgerufen am 4.11.2023 unter uptodate.com (Zugriff kostenpflichtig)

[6] IQWiG (2020) Depression. Abgerufen am 06.11.2023 unter gesundheitsinformation.de

[7] ÄZQ (2022) Antidepressiva: Was ist beim Absetzen zu beachten? Abgerufen am 6.11.2023 unter patienten-information.de

  • 20. 11. 2023: Änderung der Fragestellung nach optimaler Absetzstrategie, da mittlerweile gut belegt ist, dass Absetzsymptome existieren.
  • 29. 12. 2016: erste Version. Fragestellung war ‚Können nach dem Absetzen von Antidepressiva schwerwiegende Probleme auftreten?‘

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