Spermidin: Anti-Aging-Effekt unklar

Würmer und Fliegen scheinen durch Spermidin länger zu leben. Ob das beim Menschen auch funktioniert, ist noch zu wenig erforscht.

Review:  Julia Harlfinger 

Kann die Einnahme von Spermidin das Leben verlängern? Kann sie Krankheiten verhindern?

Ob Spermidin in Form von Nahrungsergänzungsmittel Menschen länger oder gesünder leben lässt, hat bisher keine Studie untersucht. Zum Einfluss einer Spermidin-reichen Ernährung auf die Lebenserwartung gibt es zwar zwei Beobachtungsstudien. Ihre Ergebnisse sind jedoch nicht aussagekräftig.

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Den körperlichen Verfall aufhalten und für immer jung bleiben – der ewige Traum der Menschheit und auch der Wissenschaft. Spermidin soll dabei helfen. Spermidin ist eine Substanz, die natürlicherweise sowohl im Körper als auch in vielen Nahrungsmitteln vorkommt: in Weizenkeimen, gereiftem Käse, Pilzen sowie zahlreichen Früchten und Gemüsesorten.

Mittlerweile setzt die Nahrungsergänzungsindustrie Spermidin unzähligen ihrer Produkte als Bestandteil zu. Die Hersteller werben mit der wissenschaftlich belegten Anti-Aging-Wirkung von Spermidin. Doch auf welche Studien stützen sich diese Behauptungen eigentlich?

Von Würmern und Menschen

Experimente im Labor zeigen: Bei Hefezellen, Würmern und Fliegen scheint Spermidin für ein längeres Leben zu sorgen [2]. Ob über die Nahrung oder als Kapsel aufgenommenes Spermidin auch beim Menschen eine lebensverlängernde Wirkung hat, können solche Versuche nicht beantworten – zu sehr unterscheidet sich der Mensch von Würmern und Fliegen.

Herausfinden lässt sich das nur in Studien mit menschlichen Testpersonen.

Spermidin aus Kapseln: unerforscht

Zur lebensverlängernden Wirkung von Spermidin als Nahrungsergänzungsmittel haben wir jedoch überhaupt keine Studien gefunden. Was die regelmäßige Einnahme von Spermidin-Kapseln für die Gesundheit und die Lebenserwartung bringt, ist nicht erforscht.

Und dennoch: In Apotheken und Internet-Shops finden sich Nahrungsergänzungsmittel mit Spermidin zuhauf. Die enthaltene Menge an Spermidin variiert dabei je nach Produkt zwischen 0,5 und 6 Milligramm pro Kapsel.

Ähnliche Mengen sind auch in 2 bis 25 Gramm Weizenkeime, Sojabohnen oder reifer Käse enthalten. Auch 10 bis 60 Gramm Kürbiskerne enthalten in etwa dieselbe Menge an Spermidin [4,5].

Ernährung mit extra viel Spermidin?

Ob eine Spermidin-reiche Ernährung eine lebensverlängernde Wirkung hat, können wir ebenfalls nicht beantworten. Eine Beobachtungsstudie mit über 800 Personen scheint diese Vermutung zumindest zu unterstützen [1].

In dieser Studie war von jenen Menschen, die sich eher Spermidin-arm ernährt hatten am Ende jeder zweite verstorben. Von jenen mit relativ Spermidin-reicher Ernährung war es nur jeder dritte. Dass der Grund dafür das Spermidin war, ist aber fraglich.

Zu den Spermidin-reichen Nahrungsmitteln in dieser Studie zählten Vollkorn-Produkte, Äpfel, Birnen, Salat, Sprossen und Kartoffeln. Zugegeben, eine sehr bunte Auswahl an unterschiedlichen Lebensmitteln. Es ist also durchaus möglich, dass gar nicht das Spermidin für das längere Leben verantwortlich war, sondern die generell gesündere Ernährung – unabhängig vom Spermidin-Gehalt der Nahrungsmittel. Dass etwa eine Ernährung mit Vollkorn-Produkten die Gesundheit zu fördern scheint, haben wir bereits in einem anderen Beitrag recherchiert.

Zumindest kurzfristig sicher

Eine Studie untersuchte die Sicherheit und Verträglichkeit von Spermidin als Nahrungsergänzungsmittel [3]. Dabei führten 1,2 Milligramm Spermidin pro Tag über drei Monate zu keinen gesundheitlichen Problemen bei den 30 Teilnehmenden. Ob eine langfristige, höher dosierte Einnahme negative Folgen haben könnte, ist jedoch unklar.

Verjüngung für Zellen

Der Körper stellt den eiweißähnlichen Stoff Spermidin ganz natürlich selbst her. Wir nehmen ihn aber auch mit verschiedenen Nahrungsmitteln zu uns. Seine genaue Funktion ist noch nicht vollständig erforscht.

Körpereigenes Spermidin spielt eine Rolle beim Erneuern und Abbauen alter Zellbestandteile („Autophagie“) – es verschafft Zellen sozusagen eine „Verjüngungskur“. Fachleute vermuten, dass diese Funktion auch den natürlichen Alterungsprozess beeinflusst. Ob mit der Nahrung aufgenommenes Spermidin eine ähnliche Wirkung hat, ist unklar.

Seinen Namen hat Spermidin übrigens daher, dass es erstmals in Sperma entdeckt wurde – denn auch dort kommt es in großer Menge vor.

Die Studien im Detail

Wir wollten beurteilen, ob die Einnahme von Spermidin eine lebensverlängernde Wirkung beim Menschen hat. Dafür haben wir wissenschaftliche Studiendatenbanken nach aussagekräftigen Forschungsergebnissen durchsucht.

Die ideale Studie

In einem idealen Szenario würde diese Frage in einer randomisiert-kontrollierten Studie untersucht. Dabei wird eine große Anzahl an Testpersonen nach dem Zufallsprinzip (randomisiert) einer von zwei Gruppen zugeteilt.

In unserem Idealszenario nimmt die erste Gruppe regelmäßig und über lange Zeit Kapseln mit Spermidin ein. Die zweite Gruppe ist die Kontrollgruppe. Auch sie nimmt regelmäßig Kapseln ein, die von den „echten“ Kapseln äußerlich nicht zu unterscheiden sind. Diese Kapseln enthalten jedoch kein Spermidin, es sind Placebo-Kapseln ohne Wirkstoff. Um das Ergebnis nicht durch Erwartungen zu beeinflussen, wissen weder Testpersonen noch die an der Studie beteiligten Forschenden, wer welcher Gruppe zugeteilt ist.

Nach vielen Jahren wird erhoben: wer ist wann und woran gestorben? Bei wie vielen Menschen wurden lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen entdeckt? Wenn sich zeigt, dass die Menschen aus der Spermidin-Gruppe deutlich länger und gesünder leben als die Kontrollgruppe, wäre die einzig plausible Erklärung dafür das Spermidin. Denn durch die zufällige Zuteilung sind andere Merkmale in beiden Gruppen gleich häufig und fallen daher als Grund für einen möglichen Unterschied zwischen den beiden Gruppen weg.

Soweit die Theorie. In der Praxis hat bisher niemand eine solche Studie durchgeführt.

Beobachten statt Zuteilen

Wir stehen zwar nicht komplett ohne Studien da; allerdings handelt es sich dabei um deutlich weniger aussagekräftige Beobachtungsstudien: Eine solche hat eine internationale Forschungsgruppe mit österreichischer Beteiligung durchgeführt [1]. Dazu befragte das Forschungsteam 829 Frauen und Männer im Alter von 40 bis 79 aus dem Südtiroler Ort Bruneck zu deren Ernährungsgewohnheiten. Die Frage war, wie viel Spermidin-haltige Nahrungsmittel sie zu sich nahmen. Die Ernährungsbefragung wiederholte sich alle fünf Jahre.

20 Jahre später zeigte die Auswertung; von den ursprünglich Befragten waren mittlerweile 341 Menschen gestorben: In der Gruppe mit Spermidin-armer Ernährung waren etwa 50 Prozent der Teilnehmenden verstorben. In der Gruppe mit Spermidin-reicher Ernährung waren es hingegen nur 30 Prozent – also deutlich weniger.

Keine Aussage über Spermidin

Mag ein wenig danach klingen, als ob Spermidin-reiche Ernährung zu einem längeren Leben verhilft. Doch so einfach ist es leider nicht. Ob der geringere Anteil an Todesfällen wirklich auf mehr Spermidin zurückzuführen ist, kann die Studie nicht zeigen. Schließlich enthalten die am häufigsten von den Studienteilnehmenden verzehrten Spermidin-reichen Nahrungsmittel wie Vollkorn-Produkte, Äpfeln, Birnen, Salat, Sprossen und Kartoffeln auch viele andere Bestandteile, die gesundheitsförderlich sein können.

Oder es können ganz andere Einflussfaktoren hinter den Unterschieden bei der Lebensdauer stecken: In Frage kommen etwa Unterschiede hinsichtlich Lebensstil, sozialer Sicherheit, Gesundheitsversorgung oder erblicher Veranlagung.

Aussagekraft gering

Zudem nahmen an der Studie nur 829 Frauen und Männer eines einzigen Südtiroler Ortes teil – zu wenig und zu speziell, um die Ergebnisse auf die Allgemeinbevölkerung übertragen zu können.

Die Studie halten wir deshalb für nicht aussagekräftig. Belege dafür, dass Spermidin in der Nahrung zu einem längeren und gesünderen Leben führt, kann sie nicht liefern.

Zweite Studie mit Datenlücken

Die Autorinnen und Autoren der Bruneck-Studie erwähnen in ihrer Publikation [1] noch eine zweite Studie. Für diese wurden 1770 Männer und Frauen zwischen 39 und 67 Jahren aus Salzburg zu ihrer Ernährung befragt. Anschließend wurden sie durchschnittlich 12,8 Jahre lang beobachtet.

Der Publikation zufolge soll sich auch bei dieser Studie ein Zusammenhang zwischen Spermidin-reicher Ernährung und verringertem Sterberisiko gezeigt haben. Insgesamt sind jedoch lediglich 48 Todesfälle aufgetreten – zu wenige für die Berechnung von robusten Ergebnissen mit allgemeiner Gültigkeit. Zudem fehlen wichtige Daten, um alle Angaben und Arbeitsschritte im Detail unabhängig nachvollziehen zu können. Das lässt uns an der Aussagekraft der Ergebnisse zweifeln.

Neue Suche blieb ergebnislos

Bei einer wiederholten Suche konnten wir keine neuen Studien finden, die untersuchten, ob mehr Spermidin zu einem längeren Leben und mehr Gesundheit führt. Wir fanden lediglich eine Studie, die untersuchte, ob Spermidin-reiche Nahrung Menschen mit Demenz helfen könnte [4].

Insgesamt 79 Altersheimbewohnerinnen und -bewohner bekamen in der Studie drei Monate lang entweder ein normales oder ein mit Spermidin angereichertes Frühstück serviert. Zu Beginn und am Ende wurde ihre geistige Leistungsfähigkeit getestet. Das Studienteam berichtet hier von geringfügig höherer Leistung in der Gruppe, die extra Spermidin erhalten hatte. Aufgrund der sehr geringen Personenanzahl und des minimalen Effekts finden wir dieses Ergebnis wenig aussagekräftig.

 

Versionsgeschichte:

    • 24.8. 2021: Eine neuerliche Suche brachte keine neuen Ergebnisse.
    • 5.6.2019: Veröffentlichung der ersten Version

 

[1] Kiechl u.a. (2018)
Studienart: 2 prospektive Kohortenstudien
Teilnehmende in Studie 1: 829 Männer und Frauen (Alter 40 – 79) aus Bruneck, Südtirol
Teilnehmende in Studie 2: 1770 Männer und Frauen (Alter 39 – 67) aus Salzburg
Studiendauer Studie 1: 20 Jahre
Studiendauer Studie 2: 12,8 Jahre
Fragestellung: Erhöht eine Spermidin-reiche Ernährungsweise die Lebenserwartung?
Interessenskonflikte: Drei der Autoren besitzen Anteile an einem Unternehmen, welches Spermidin als Nahrungsergänzungsmittel vertreibt

Kiechl S, Pechlaner R, Willeit P, et al. Higher spermidine intake is linked to lower mortality: a prospective population-based study. Am J Clin Nutr. 2018 Aug 1;108(2):371-380. (Zusammenfassung der Studie) (Studie in voller Länge)

Weitere Quellen

[2] Eisenberg u.a. (2009)
Eisenberg T, Knauer H, Madeo F et al. Induction of autophagy by spermidine promotes longevity. Nat Cell Biol. 2009 Nov;11(11):1305-14. (Zusammenfassung der Studie)

[3] Schwarz u.a. (2018)
Schwarz C, Stekovic S, Wirth M, Benson G, Royer P, Sigrist SJ, Pieber T, Dammbrueck C, Magnes C, Eisenberg T, Pendl T, Bohlken J, Köbe T, Madeo F, Flöel A. Safety and tolerability of spermidine supplementation in mice and older adults with subjective cognitive decline. Aging (Albany NY). 2018 Jan 8;10(1):19-33.(Link zur Studie)

[4] Pekar u.a. (2021)
Pekar, T., Bruckner, K., Pauschenwein-Frantsich, S., Gschaider, A., Oppliger, M., Willesberger, J., Ungersbäck, P., Wendzel, A., Kremer, A., Flak, W., Wantke, F., & Jarisch, R. (2021). The positive effect of spermidine in older adults suffering from dementia : First results of a 3-month trial. Wien Klin Wochenschr, 133(9-10), 484-491.(Link zur Studie)

[5] Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen
Abgerufen am 24.8.2021 unter www.verbraucherzentrale.de

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