Startseite ● Reiseübelkeit: Hilft Dimenhydrinat? Reiseübelkeit: Hilft Dimenhydrinat? Ob Dimenhydrinat wirksam gegen Reiseübelkeit ist, lässt sich schwer abschätzen – obwohl das Medikament seit vielen Jahren auf dem Markt ist. 30. Dezember 2021 AutorIn: Iris Hinneburg Review: Julia Harlfinger Jana Meixner Teilen Lindert Dimenhydrinat Reiseübelkeit besser als ein Scheinmedikament? wissenschaftliche Belege fehlen Lindert Dimenhydrinat Reiseübelkeit so gut wie das bewährte Medikament Scopolamin? wissenschaftliche Belege fehlen Die besten verfügbaren Studien zum Thema sind leider nicht aussagekräftig, etwa weil sie ziemlich klein waren und in den Veröffentlichungen viele Details zur Nachvollziehbarkeit fehlen. Daher können wir eine Wirkung weder belegen noch ausschließen. so arbeiten wir Was hilft, wenn sich alles dreht? © Cara-Foto – Shutterstock.com Ob im Auto, Bus, Flugzeug oder Schiff: Reiseübelkeit, auch bekannt unter Reisekrankheit, kann den schönsten Urlaub vermiesen. Typisch dafür sind etwa Übelkeit, Blässe, Schwindel und Erbrechen. Verschiedene Medikamente sollen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gegen solche Beschwerden helfen. Arzneimittel mit dem Wirkstoff Dimenhydrinat etwa, der die Beschwerden dämpfen soll. Sie sind ohne Rezept in Apotheken erhältlich, in Form von Tabletten oder als wirkstoffhaltige Kaugummis. Ein Leser wollte von uns wissen, wie gut Nutzen und Risiken von Dimenhydrinat bei Reiseübelkeit belegt sind. Vergleich mit Placebo und Medikament Um das herauszufinden, haben wir uns auf die Suche nach möglichst aussagekräftigen Studien gemacht. Bei unserer Recherche haben wir uns auf Studien konzentriert, bei denen die Reiseübelkeit unter realen Bedingungen untersucht wurde. Außerdem sollten die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip auf die Studiengruppen verteilt sein. Berücksichtigt haben wir Vergleiche zwischen Dimenhydrinat und einem Scheinmedikament (Placebo) oder einem gut wirksamen Medikament gegen Reiseübelkeit. Keine Einschätzung möglich Obwohl Dimenhydrinat ein weit verbreitetes Medikament ist, haben wir erstaunlicherweise nur zwei Veröffentlichungen gefunden, die diesen Ansprüchen genügten [1,2]. Die insgesamt 96 Teilnehmerinnen und Teilnehmer absolvierten einen Testflug oder fuhren auf einer Yacht im Pazifik. Laut Forschungsteams deutete sich zwar eine gewisse Wirksamkeit von Dimenhydrinat an: Demnach könnte es zwar schlechter als das Medikament Scopolamin wirken, aber immerhin besser helfen als ein Placebomittel. Allerdings sind wir hier sehr skeptisch: Wir halten die Ergebnisse für so wenig aussagekräftig, dass wir eine Wirksamkeit weder belegt sehen noch diese ausschließen können. Begründung der Unsicherheit Wir begründen unsere Unsicherheit etwa damit, dass an den Studien zu wenige – nur knapp 100 – Personen teilgenommen haben und die Ergebnisse mit einer sehr großen Schwankungsbreite verbunden waren. Auch die Erhebung der Beschwerden erscheint uns nicht verlässlich, und wichtige Details zur Beurteilung der Aussagekraft konnten wir in den Studien nicht nachlesen. Außerdem ist uns nicht recht klar, ob die verschiedenen Gruppen zu Studienstart ähnlich genug für einen fairen Vergleich waren. Etwas fraglich bleibt es insgesamt auch, wie verlässlich sich die Ergebnisse auf andere Situationen übertragen lassen, in denen Reiseübelkeit auftritt. So haben wir beispielsweise keine Studien finden können, die Dimenhydrinat bei Auto- oder Busfahrten oder auf größeren Schiffen getestet haben. Nebenwirkungen möglich Beide Publikationen [1,2] berichten übereinstimmend über unerwünschte Effekte: So fühlten sich einige Testpersonen in der Gruppe mit Dimenhydrinat schläfrig oder müde. Das war auch mit Scopolamin der Fall, nicht aber mit Placebo [2]. Dimenhydrinat macht müde Der fragliche Wirkstoff Dimenhydrinat ist relativ alt: In Österreich und Deutschland sind Medikamente mit Dimenhydrinat seit den 1950er Jahren auf dem Markt. Nach der Einnahme zerfällt Dimenhydrinat rasch u.a. in Diphenhydramin. Diese Substanz macht müde. Da Reiseübelkeit laut Theorie durch widersprüchliche Reize im Gehirn entsteht, sollen sich die Beschwerden durch die dämpfende Wirkung lindern lassen. Widersprüchliche Eindrücke Das Gehirn verarbeitet Reize des Auges und des Gleichgewichtssinns und setzt sie miteinander in Beziehung. In manchen Situationen passen diese Eindrücke nicht zueinander: Sitzt man etwa auf einem schwankenden Schiff und schaut zu Boden, nimmt das Auge meist keine Reize wahr, die auf Bewegung hindeuten. Gleichzeitig meldet aber das Gleichgewichtsorgan im Innenohr, dass sich der Körper bewegt. Die Reiseübelkeit, auch Reisekrankheit oder Kinetose genannt, ist also eine Reaktion auf widersprüchliche Sinneseindrücke. In Folge können die klassischen Symptome entstehen: Schwindel, Übelkeit, Speichel sammelt sich im Mund. Manche Betroffene schwitzen oder erbrechen. Unter welchen Umständen die Probleme auftreten und wie stark die Beschwerden ausfallen, ist individuell sehr unterschiedlich [3]. Weitere Recherchen Wir haben bereits zu Ingwer und Vitamin C als vermeintliche Mittel gegen Übelkeit recherchiert. Die Studien im Detail Bei unserer Recherche haben wir zwei Publikationen aus den 1980ern zum Nutzen von Dimenhydrinat bei Reiseübelkeit gefunden [1,2]. Es nahmen Frauen und Männer teil, die bereits früher an Reiseübelkeit gelitten hatten. In beiden Veröffentlichungen ist nicht angegeben, wie viel Dimenhydrinat die Testpersonen einnahmen. Übliche Dosierungen der heute gebräuchlichen Tabletten liegen bei 50 Milligramm, Kaugummis enthalten meist 20 Milligramm. Im Flugzeug Die erste Studie [1] untersuchte die Wirkung von Dimenhydrinat bei einem einstündigen Testflug, der extra für diese Studie in Deutschland stattfand. An der Untersuchung nahmen 20 Personen zwischen 20 und 47 Jahren teil. Zehn erhielten ein Wirkstoffpflaster mit Scopolamin. Die andere Hälfte bekam Tabletten mit Dimenhydrinat. Vor, während und nach dem Flug mussten die Teilnehmenden auf einem Fragebogen angeben, welche Beschwerden sie hatten und teils auch wie stark die Beschwerden waren, zum Beispiel Übelkeit, Bauchschmerzen, Schwindel und Kopfschmerzen. In jeder Gruppe kam es bei 3 von 10 Personen zu den für die Reiseübelkeit typischen Beschwerden. In der Gruppe mit Dimenhydrinat fielen die Beschwerden allerdings etwas stärker aus; hier musste eine Person sogar erbrechen. Prinzipiell mag dies danach klingen, dass Dimenhydrinat dem etablierten Mittel Scopolamin zwar unterlegen ist, aber doch eine gewisse positive Wirkung hat. Doch wir halten diese Einschätzung nicht für aussagekräftig: Dafür war die Anzahl der Testpersonen viel zu klein, und, damit verbunden, die Schwankungsbreite viel zu groß. Auch beim Erhebungsinstrument – also dem Fragebogen – sind wir unsicher, ob er das tatsächliche Geschehen verlässlich erfassen konnte. Und uns gibt zu denken, dass die Dimenhydrinat-Gruppe schon von vorne herein offenbar eher zum Erbrechen neigte, was den Vergleich mit der Scopolamin-Gruppe vielleicht verzerrt hat. Alles in allem lässt uns diese Studie sehr unschlüssig zurück. Auf einer Yacht Die zweite Publikation [2] berichtet über zwei kleinere Untersuchungen aus den USA: Insgesamt 76 Personen zwischen 16 und 55 Jahren haben daran teilgenommen und dafür eine achtstündige Testfahrt mit einer Yacht im Pazifik gemacht. Sie erhielten entweder Dimenhydrinat zum Einnehmen oder ein Wirkstoffpflaster mit Scopolamin oder ein Scheinmedikament. Dann gaben sie im Abstand von ein bis zwei Stunden an, ob sie an Reiseübelkeit litten und wie stark diese war. Das Forschungsteam notierte außerdem, wie viele Menschen erbrechen mussten oder als Notfallmedikament eine Spritze mit Scopolamin haben wollten. Das wurde in der Studie als „erkrankt“ gewertet. Laut Studienautoren soll Dimenhydrinat zwar besser helfen als ein Placebomittel, aber schlechter wirken als das bewährte Medikament Scopolamin. Wir sind aber unsicher, ob diese Einschätzung wirklich verlässlich ist. Wieder haben nur ziemlich wenige Personen teilgenommen, und die Ergebnisse haben eine sehr große Schwankungsbreite. Viele Details zum Ablauf der Studie sind nicht berichtet. Deswegen können wir zum Beispiel nicht nachvollziehen, ob die Gruppenzuteilung wirklich zufällig war und ob die Testgruppen zu Studienbeginn insgesamt ähnlich genug für einen fairen Vergleich waren. Auch der Fragebogen zur Symptomerfassung war nicht, anders als in guten Studien üblich, vorab auf seine Verlässlichkeit geprüft worden. Wissenschaftliche Quellen [1] Offenloch (1986) Studientyp: randomisierte kontrollierte Studie Teilnehmer: 20 Personen mit bekannter Reiseübelkeit Fragestellung: Verringert Dimenhydrinat im Vergleich zu Scopolamin die Beschwerden? Interessenkonflikte: Keine Angaben Offenloch K u.a. Vergleichende Inflight-Untersuchung eines Scopolamin-haltigen Membranpflasters versus Dimenhydrinat unter definierten Beschleunigungsreizen. Arzneimittelforschung 1986, 36:1401-6 Zusammenfassung [2] Price (1981) Studientyp: randomisierte kontrollierte Studie Teilnehmer: 76 Personen mit Reisekrankheit in zwei Untersuchungen Fragestellung: Verringert Dimenhydrinat im Vergleich zu Scopolamin oder einem Scheinmedikament die Beschwerden? Interessenkonflikte: keine Angaben Price N u.a. Transdermal scopolamine in the prevention of motion sickness at sea. Clinical pharmacology and therapeutics 1981, 29: 414-419 Zusammenfassung Weitere wissenschaftliche Quellen [3] UpToDate (2021) Motion sickness. Abgerufen am 11.11.2021 unter www.uptodate.com Schlagworte AutoBusDimenhydrinatErbrechenFlugzeugKaugummiKinetoseReisekrankheitReiseübelkeitSchiffSchwindelScopolaminÜbelkeit In über 500 Faktenchecks suchen