Schützt Selbstbefriedigung vor Prostata-Krebs?

Ob Sex oder Selbstbefriedigung: Häufige Samenergüsse sollen vor Prostatakrebs schützen. Stimmt das tatsächlich oder haben wir es hier mit einem modernen Mythos zu tun?

Review:  Bernd Kerschner 

Haben häufige Samenergüsse einen schützenden Effekt gegen Prostatakrebs?

Studien liefern Hinweise darauf, dass Männer mit Prostatakrebs in ihrem Leben seltener Samenergüsse hatten als gesunde Männer im selben Alter. Dass häufige Samenergüsse vor Krebs schützen, ist damit allerdings nicht gesagt. Das Sexualleben und das Prostatakrebs-Risiko könnten auch auf anderem Wege zusammenhängen.

so arbeiten wir
©iStock-Tiero Krebs-Vorsorge einmal anders?
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Im Jahr 2003 kam eine Studie zu einem Ergebnis, bei dem klar war, dass es weltweit durch die Medien gehen würde: Häufige Selbstbefriedigung schützt Männer vor Prostatakrebs.

Während jungen Männern noch vor einigen Jahrzehnten gepredigt wurde, von Selbstbefriedigung würden sie blind, bekämen Haarausfall oder Depression, scheint heute das Gegenteil zu gelten: Je öfter desto besser! Ganz nach dem Motto „use it or lose it“ sollen häufige Samenergüsse die Prostata fit und somit gesund halten – so zumindest die Theorie [4].

Doch ist der behauptet Schutz-Effekt eine wissenschaftliche Tatsache? Oder nur eine moderne Legende? Wir haben uns die Angelegenheit genauer angesehen.

Ein Zusammenhang ist möglich, aber…

Tja. Im Gegensatz zum Thema selbst ist die Studienlage eher wenig befriedigend. Seit dem Jahr 2003 wurden fünf einzelne Studien veröffentlicht [1-5].

Sie kamen insgesamt zu dem Ergebnis: Ja, es könnte tatsächlich einen Zusammenhang geben zwischen der Häufigkeit von Samenergüssen und dem Risiko für Prostatakrebs.

Die aussagekräftigste Studie begleitete Männer über fast 40 Jahre hinweg [1]. Dabei beobachtete das Forschungsteam über mehrere Jahrzehnte, wer von ihnen Krebs bekam und wer nicht. Gleichzeitig gaben die Männer auch Auskunft über ihre sexuellen Gewohnheiten. Und tatsächlich: Jene Männer, die viel masturbierten oder Sex hatten, erkrankten etwas seltener als ihre sexuell weniger aktiven Altersgenossen.

In den anderen vier Studien wurden die Teilnehmenden rückblickend befragt, als die sie schon Prostatakrebs hatten [2-5]. Ihre Angaben wurden dann mit jenen von gesunden Männern im selben Alter verglichen. Diese Studien sind weniger aussagekräftig, weil sie ausschließlich auf der Erinnerung der Teilnehmer basieren.

Laut zwei dieser Studien gehen Prostatakrebs und seltene Samenergüsse Hand in Hand, die anderen zwei Studien hingegen fanden keinen Zusammenhang.

Studien können Zusammenhang zeigen, aber keinen Schutzeffekt

Die Methodik der Studien und die Befragung über sexuelle Gewohnheiten in jungen Jahren bringen es mit sich, dass die Aussagekraft dieser Ergebnisse gering ist. Denn Erinnerungen sind fehleranfällig, besonders wenn sie so lange zurückliegen.

Nimmt man die Ergebnisse trotzdem ernst, zeigen sie nicht, dass Selbstbefriedigung schützt. Sondern nur, dass Männer, die viele Samenergüsse haben, vielleicht etwas seltener Prostatakrebs bekommen. Ob aber die vielen Samenergüsse der Grund für die niedrigeren Krebs-Raten sind, das können die Studien nicht beantworten. Es wäre genauso denkbar, dass sowohl das Krebsrisiko als auch die Lust auf Selbstbefriedigung von etwas ganz anderem abhängt – von Sexualhormonen zum Beispiel.

Hand anlegen gegen Krebs: die Theorien dahinter

Aber wie kommen Fachleute eigentlich auf die Idee, Selbstbefriedigung könnte die Prostata schützen? Die Prostata ist jene Drüse, die einen Großteil der Samenflüssigkeit produziert. Einer populären Theorie zufolge verhindere das regelmäßige Ausstoßen und Neubilden des Spermas durch Samenergüsse, dass schädliche Stoffe, die Krebs auslösen könnten, allzu lange in der Prostata verweilen [3,6]. Es sei also dieses regelmäßige „Durchspülen“ der Prostata, das sich positiv auswirken könnte, vermuten Fachleute.

Prostatakrebs ist keine Seltenheit

Derzeit leben in Österreich etwa 60.000 Männer mit der Diagnose Prostatakrebs. Viele von ihnen haben die Diagnose schon vor Jahren erhalten. Pro Jahr kommen etwa 6.000 neue Erkrankungen hinzu. Damit ist Prostatakrebs die häufigste Krebsform bei Männern [8].

Das Risiko, an Prostatakrebs zu versterben, ist dennoch vergleichsweise gering. Während in Österreich pro Jahr rund 130 von 10.000 Männern die Diagnose Prostatakrebs bekommen, sterben von diesen 10.000 Männern jährlich rund 3 an dem Krebs [8].

Das Problem Überdiagnostik

Dass Prostatakrebs in den letzten Jahrzehnten scheinbar häufiger geworden ist, liegt vor allem an den vermehrten Kontrollen und den feineren Untersuchungstechniken. Prostatakrebs wird also insgesamt nicht häufiger – er wird nur öfter gefunden [10]. Dazu kommt, dass die Lebenserwartung in der westlichen Welt stetig steigt. Und mit zunehmendem Alter steigt auch die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Krebszellen in der Prostata.

Etwa jeder zweite Mann über 90 Jahren hat einen bösartigen Tumor in der Prostata – ohne es zu wissen [7]. In sehr vielen Fällen macht Prostatakrebs zu Lebzeiten nämlich keine Probleme. Unnötige Untersuchungen oder gar Operationen können dann mehr schaden als nutzen.

Mehr Infos zu diesem als „Überdiagnostik“ bekannten Phänomen hat das Projekt „Gemeinsam gut entscheiden“.

Ob es bei Prostatakrebs manchmal besser ist, abzuwarten, statt einzugreifen, haben wir uns in diesem Faktencheck angesehen.

Wer hat ein hohes Risiko für Prostatakrebs?

Auch wenn die Frage nach der Selbstbefriedigung gegen den Prostatakrebs noch nicht ganz geklärt ist: Einige Risikofaktoren für die Erkrankung sind gesichert [9]. Zu den wichtigsten gehören

  • fortgeschrittenes Alter
  • nahe Verwandte, die an Prostatakrebs erkrankt sind (z.B. Vater oder Bruder)
  • die Abstammung: Männer mit dunkler Hautfarbe bekommen etwas häufiger Prostatakrebs als Männer mit einer anderen Hautfarbe.
  • Vitamin E als Nahrungsergänzungsmittel: Es steigert in hohen Dosen das Risiko für Prostatakrebs, wenn es sehr lange eingenommen wird.

Mehr wissen

Wer mehr wissenschaftlich fundierte Informationen zum Thema Prostatakrebs sucht, wird auf der unabhängigen Seite Gesundheitsinformation.de fündig.

Die Studien im Detail

Welche Studien haben wir berücksichtigt?

Um die Wirksamkeit einer Behandlung zum Schutz vor Krebs beurteilen zu können, wünschen sich Forschende normalerweise randomisiert-kontrollierte Studien. Doch das ist nicht immer möglich. Rein theoretisch würden Männer dabei per Los (randomisiert) in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Die eine Gruppe sollte von nun an täglich masturbieren oder Sex haben, die andere Gruppe nie. Die Studie sollte beginnen, wenn die Teilnehmer junge Erwachsene sind und so lange laufen, bis sie das Alter erreichen, in dem Prostatakrebs für gewöhnlich auftritt – also ein Alter jenseits der 70 Jahre. Klingt vollkommen unrealistisch? Ist es auch. Solche Studien stehen uns deshalb nicht zur Verfügung.

Wir müssen uns deshalb mit sogenannten Beobachtungsstudien begnügen. Dabei wird eine möglichst große Gruppe von Männern beobachtet und ihre sexuellen Gewohnheiten abgefragt sowie das Auftreten von Prostatakrebs dokumentiert. Man nennt diese Studien auch Kohortenstudien. Anschließend wird nach einem statistischen Zusammenhang gesucht.

Oder aber erkrankte und gesunde Männer werden zu ihren Gewohnheiten in der Vergangenheit befragt und verglichen. Fall-Kontroll-Studien funktionieren so.

Manche der Studien, die wir finden konnten, unterschieden zwischen Samenergüssen durch Selbstbefriedigung und Geschlechtsverkehr, andere taten das nicht. Wir betrachteten für unsere Einschätzung immer die gesamten Samenergüsse, egal in welchem Kontext sie vorkamen.

Eine der Studien war eine große, fast 40 Jahre andauernde Kohortenstudie [1]. Zu Beginn der Studie in den 80er Jahren wurden die über 51.000 Teilnehmer zu ihren sexuellen Gewohnheiten seit ihren Jugendjahren befragt. Sie zeigte einen geringfügigen Zusammenhang zwischen dem Krebsrisiko und Samenergüssen.

Die anderen vier Studien waren sogenannte Fall-Kontroll-Studien [2-5]. Dabei befragten die Forschungsteams Männer über 60 Jahren mit Prostatakrebs und gesunde Männer desselben Alters zu ihren sexuellen Gewohnheiten in der Vergangenheit. Die Befragung ging dabei zurück bis in die Jugend der Männer. Gefragt wurde unter anderem nach der Zahl der Sexualpartner und der durchschnittlichen Anzahl von Samenergüssen pro Monat oder Woche.

Eine dieser Studien fand ein um etwa ein Drittel verringertes Prostatakrebs-Risiko bei Männern, die in jüngeren Jahren mehr als einen Samenerguss pro Woche hatten im Vergleich zu jenen mit seltenen Samenergüssen [2]. Laut der zweiten Studie hatten Männer mit Prostatakrebs in der Vergangenheit etwa zwei Samenergüsse weniger pro Monat als gesunde Männer [3]. Die dritte und die vierte Studie fanden gar keinen Unterschied in der Samenerguss-Häufigkeit zwischen Gesunden und Erkrankten [4,5].

Wie aussagekräftig sind die Studien?

Beobachtungsstudien sind an sich wenig aussagekräftig. Denn viele unbekannte Einflüsse können das Ergebnis verzerren. So bergen auch jene fünf Beobachtungsstudien, die wir zum Thema finden konnten, gewisse Probleme:

  • Sie können zwar einen Zusammenhang feststellen, aber keine Ursache-Wirkungs-Beziehung. Sowohl die häufigen Samenergüsse als auch das Prostatakrebs-Risiko könnten eine ganz andere Ursache haben, wie etwa die Hormonlage oder die Gene. Ob die häufige Selbstbefriedigung der Grund für die gesunde Prostata ist, bleibt unklar.
  • In vier der Studien wurden Prostatakrebs-Patienten und gesunde Männer zu ihren sexuellen Gewohnheiten in unterschiedlichen Lebensphasen befragt [2-5]. In den meisten [1,2,3,5] wurde allerdings vorab nicht überprüft, ob die gesunden Männer tatsächlich gesund waren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass einige von ihnen Prostatakrebs hatten, es aber (noch) nicht wussten.
  • Sich an die exakte Anzahl von Samenergüssen vor einigen Jahrzenten zu erinnern, ist schwierig, und Berichte aus dem Gedächtnis sind immer fehleranfällig. Hinzu kommt, dass das Thema manchen befragten Männern vielleicht unangenehm war und sie eher die Antworten gaben, von denen sie dachten, sie wären „normal“ oder würden erwartet.
  • Nicht immer waren die erkrankten und die gesunden Männer gut vergleichbar. Manchmal war die gesunde Kontrollgruppe durchschnittlich jünger. Es ist möglich, dass jüngere Männer später noch Prostatakrebs entwickeln oder bereits erkrankt waren, ohne es zu wissen.
  • Nicht alle Studienteams erwähnen, wie viele Teilnehmer die Studie abgebrochen oder Informationen verweigert haben. Auch hier kann es zu Verzerrungen kommen.

[1] Rider u.a. (2016)
Rider, J. R., et al. (2016). „Ejaculation Frequency and Risk of Prostate Cancer: Updated Results with an Additional Decade of Follow-up.“ Eur Urol 70(6): 974-982. (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5040619″ rel=“noopener“ target=“_blank“>Link zur Studie)

[2] Giles u.a. (2003)
Giles, G.G., et al. (2003), Sexual factors and prostate cancer. BJU International, 92: 211–216. (Link zur Studie)

[3] Benli u.a. (2021)
Benli, E., et al. (2021). „Comparison of Sexual Behavior and Inflammatory Parameters in Prostate Cancer Patients with Control Group: Prospective Controlled Study.“ Urol J 19(2): 101-105. (Link zur Studie)

[4] Papa u.a. (2017)
Papa, N. P., et al. (2017). „Ejaculatory frequency and the risk of aggressive prostate cancer: Findings from a case-control study.“ Urol Oncol 35(8): 530.e537-530.e513. (Link zur Studie)

[5] Dimitropoulou u.a. (2009)
Dimitropoulou P, et al. (2009). UK Genetic Prostate Cancer Study Collaborators; British Association of Urological Surgeons Section of Oncology. Sexual activity and prostate cancer risk in men diagnosed at a younger age. BJU Int. 103(2):178-85. (Link zur Studie)

[6] Jian u.a. (2018)
Jian, Z., et al. (2018). „Sexual Activity and Risk of Prostate Cancer: A Dose-Response Meta-Analysis.“ J Sex Med 15(9): 1300-1309. (Link zur Studie)

[7] Jacklin u.a. (2021)
Jacklin, C., Philippou, Y., Brewster, S. F., & Bryant, R. J. (2021). “More men die with prostate cancer than because of it”-an old adage that still holds true in the 21st century. Cancer Treatment and Research Communications, 26, 100225. (Link zur Studie)

[8] Statistik Austria
Österreichisches Krebsregister (Stand 19.01.2022) und Todesursachenstatistik. Anzahl maligner invasiver Tumoren inkl. Mehrfachtumoren. Erstellt am 24.03.2022.
Abgerufen am 19.12.2022 unter www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/gesundheit/krebserkrankungen

[9] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (2022)
Örtlich begrenzter Prostatakrebs. Abgerufen am 19.12.2022 unter www.gesundheitsinformation.de/oertlich-begrenzter-prostatakrebs

[10] Gemeinsam Gut Entscheiden (Choosing Wisely Austria)
Top 5 Empfehlungen Allgemeinmedizin. Abgerufen am 20.12.2022 unter www.gemeinsam-gut-entscheiden.at/untersuchung-der-prostata

  • 2.1.2023: Eine Aktualisierung fördert drei neue Studienergebnisse zutage. Unsere ursprüngliche Einschätzung ändert sich dadurch auf ‚wissenschaftliche Belege fehlen‘.
  • 18.6.2014: Erstveröffentlichung. Unsere Einschätzung: Möglicherweise haben häufige Ejakulationen einen schützenden Effekt vor Prostatakrebs.

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