Startseite ● Aderlass nach Hildegard von Bingen Dieser Beitrag ist älter als vier Jahre, möglicherweise hat sich die Studienlage inzwischen geändert. Aderlass nach Hildegard von Bingen Aderlass war 2000 Jahre lang die Therapie der Wahl. Meist dürfte sie Leiden jedoch verschlimmert und den Tod beschleunigt haben. Dennoch wird auch heute noch zur Ader gelassen. 06. August 2015 AutorIn: Jörg Wipplinger Review: Bernd Kerschner Claudia Christof Teilen Hat der Aderlass nach Hildegard von Bingen gesundheitlichen Nutzen? wissenschaftliche Belege fehlen Der traditionelle Aderlass beruht auf längst widerlegten Vorstellungen und ist nicht Gegenstand von Studien. Bei sehr speziellen Blutkrankheiten wird aber auch in der wissenschaftlichen Medizin zur Ader gelassen. so arbeiten wir Briefmarke Hildegard von Bingen © Hildegard_von_Bingen – DeutschePost Aus heutiger Sicht ist es verblüffend, wie Ärzte auf die Idee kommen können, einem sterbenskranken Menschen große Mengen an Blut abzunehmen. Doch noch 1799 wurde der erste US-Präsident George Washington so behandelt; wegen einer Kehlkopfinfektion nahmen ihm seine Ärzte beim Aderlass rund 1,5 Liter Blut ab. Eine Behandlung, die kaum ein gesunder Mensch überlebt hätte und an der Washington wenig überraschend verstarb. Hildegards Unsinn Der Aderlass beruht einerseits auf der Unkenntnis über den Blutkreislauf und andererseits auf der antiken Vier-Säfte-Lehre: Bei dieser über 2000 Jahre alten Theorie war ein Gleichgewicht der Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim von großer Bedeutung und mit einem Aderlass konnte diese Balance beeinflusst werden. Hildegard von Bingen (1098 – 1179) empfahl den Aderlass, um den Körper von schlechtem Blut zu befreien. So sollten Gifte ausgeschieden werden, die durch falsche Ernährung, Stress, Sorgen oder Ängste entstehen. Das Prinzip folgt also ähnlichen Vorstellungen wie das Entgiften oder Entschlacken – was es mit solchen Detox –Mythen auf sich hat, haben wir hier erklärt. Noch immer bieten manche Ärzte und in Deutschland auch Heilpraktiker den Aderlass nach Hildegard von Bingen an. Manche richten sich dabei auch nach dem Vollmond und verbinden die Therapie mit anderen, ebenfalls widerlegten, Ideen – beispielsweise wenn der Aderlass gegen Übersäuerung helfen soll. Im Übrigen ist der Name „Hildegard von Bingen“ mit Vorsicht zu behandeln: Zwar ist ihre Geschichte recht gut gesichert, doch nur wenige Originalwerke von ihr sind erhalten. Vieles was unter diesem Namen läuft, hat mit der Benediktinerin aus dem frühen Mittelalter nichts zu tun. Medizin nach Hildegard von Bingen ist eine Marketingerfindung aus dem 20. Jahrhundert [b]. Spätestens mit der Entdeckung des Blutkreislaufs im 17. Jahrhundert hätte der Aderlass eigentlich sein Ende finden müssen, denn seit damals ist klar, dass sich schlechtes Blut nicht irgendwo staut und dort vergammelt. Aber nachdem sich unwissenschaftliche Vorstellungen wie Detox und Übersäuerung bis heute gehalten haben, stirbt auch der Aderlass nach Hildegard von Bingen nicht aus. Heilsamer Blutverlust In der wissenschaftlichen Medizin wird der Aderlass bei einigen sehr speziellen Blutkrankheiten eingesetzt, unter anderem bei der Hämochromatose, einer Störung des Eisenstoffwechsels oder auch bei Polycythaemia vera.[2] Bei dieser Krankheit vermehren sich die roten Blutkörperchen zu stark, das Blut wird dickflüssig. Mit regelmäßigen Aderlässen soll der Hämatokritwert gesenkt werden. Aber selbst für diese Behandlung ist die Studienlage eher dünn [a] [1]. Bluten in der TCM Auch im indischen Ayurveda und in der traditionellen chinesischen Medizin wird für die Heilung geblutet. Hier verschmilzt der Blutverlust meist mit anderen traditionellen Techniken wie Akupunktur oder Schröpfen und zumeist werden deutlich geringere Blutmengen entnommen als bei einem Aderlass nach Hildegard von Bingen. Die Wirksamkeit des Schröpfens haben wir hier schon behandelt. Über den Einsatz in der TCM gibt es zahlreiche Fallstudien, eine Zusammenfassung wäre allerdings eine eigene Anfragebeantwortung. Wissenschaftliche Quellen [1] Marchioli u.a. (2013) Studientyp: randomisiert kontrollierte Studie Teilnehmer: 365 Fragestellung: Vergleich der Wirksamkeit der Einstellung auf einen niedrigen Hämatokritwert zu einem höheren Hämatokritwert bei Patienten mit Polycythemia vera. Interessenskonflikte: Keine angegeben. Marchioli R, Finazzi G, Specchia G, Cacciola R, Cavazzina R, Cilloni D, De Stefano V, Elli E, Iurlo A, Latagliata R, Lunghi F, Lunghi M, Marfisi RM, Musto P, Masciulli A, Musolino C, Cascavilla N, Quarta G, Randi ML, Rapezzi D, Ruggeri M, Rumi E, Scortechini AR, Santini S, Scarano M, Siragusa S, Spadea A, Tieghi A, Angelucci E, Visani G, Vannucchi AM, Barbui T; CYTO-PV Collaborative Group.Cardiovascular events and intensity of treatment in polycythemia vera. N Engl JMed. 2013 Jan 3;368(1):22-33. Volltext http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1208500 [2] Ilfeld, Mariano (2010) Ilfeld, B. M. and E. R. Mariano (2010). „Evaluating clinical research and bloodletting. (Seriously).“ Reg Anesth Pain Med 35(6): 488-489. Weitere Quellen [a] Das Ärzteinformationszentrum über Aderlass bei Polycythaemia vera http://www.ebminfo.at/aderlass [b] Gesund dank Aderlass und Loch in der Schädeldecke Die Welt, abgerufen am 30.7.2015, http://www.welt.de/gesundheit/article11129531/Gesund-dank-Aderlass-und-Loch-in-der-Schaedeldecke.html Schlagworte AderlassAlternativ- und KomplementärmedizinBlutBlutkreislaufHerz-KreislaufHildegard von BingenKreislauf In über 500 Faktenchecks suchen